Prolog

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Es gab nicht vieles in meinem Leben, auf das ich aus tiefsten Herzen wirklich stolz war. Doch in diesem Moment spürte ich, dass ich einmal alles richtig gemacht hatte. Der kühle Winde, der vom Meer aus auf meinen Balkon wehte und meine Haare tanzen ließ, füllte meine Lungen und sorgte dafür, dass ich auch nach einem stressigen Tag wie heute einen kühlen Kopf behielt. Ich war voller Sorge und Angst, dabei tanzte gleichzeitig mein Herz vor lauter Vorfreude auf die kommende Zeit. Mein Referendariat war ab diesem Schuljahr endgültig vorbei und vor mir lag nun die alleinige Verantwortung für einen Haufen junger Menschen, die ich bisher noch nicht mal alle kannte. Heute war mein erster Tag als offizielle Lehrerin gewesen - ein Tag, auf den ich so viele Jahre lang hingearbeitet hatte. Anderthalb Jahre Referendariat lagen nun hinter mir und hatten nicht nur mein berufliches Leben auf den Kopf gestellt.

Als Kind hatte ich mir immer vorgestellt, dass ich später einmal am Meer leben würde. Damals vor allem aus dem Grund, dass ich so jeden Tag sämtliche Sandburgen bauen und wieder zerstören konnte. Schon immer waren mir die Urlaube am Strand und am Meer besonders in Erinnerung geblieben: Der Geruch der Sonnencreme, der Sand, der nach dem Spielen am ganzen Körper klebte, die Wellen, in die man eintauchen konnte und wie man sich dabei am Salzwasser verschluckte ebenso wie Krebse und Seesterne im Wasser zu entdecken und versuchen zu fangen. Das alles waren Momente, die auch über zwanzig Jahre später noch in meinem Kopf wie ein Film abliefen. Ungewollt sah ich mich als junges Mädchen lachend durch den Sand laufen, der viel zu heiß war, um einfach stehenzubleiben. Ich sah meinen Vater, der mich gefühlt Stunden auf der Luftmatratze durch das Meer zog und sich nicht einmal darüber beschwerte, dass ich nicht tauschen wollte. Für einen kurzen Moment stimmte der Gedanke daran mich traurig und mich plagte das schlechte Gewissen, weil ich mich viel zu selten bei meinen Eltern meldete. Vor allem jetzt, wo mein Studium endgültig vorbei war und ich wohl oder übel auf eigenen Beinen gelernt hatte zu stehen. An mein Studium dachte ich mit gemischten Gefühlen zurück. Auf der einen Seite waren da die schrägsten Partys, die ich wohl in meinem Leben gefeiert hatte, die Entscheidungsfreiheit, ob ich am Morgen überhaupt aufstehen und zur Uni gehen wollte, die Unimädels und die Insiderwitze, die man sich vermutlich noch in vielen Jahren erzählen wird. Auf der anderen Seite waren da die langweiligen Vorlesungen, in denen man sich keine zehn Minuten konzentrieren konnte, die Klausuren, durch die man immer mal wieder durchfiel und vor allem war da sie. Anne, meine ehemalige Dozentin und die Frau, die mir vor mehr als drei Jahren das Herz gebrochen hatte. Bis heute versuchte ich die Gedanken an sie zu verdrängen, aber der Schmerz saß noch immer tief. Dabei hatte ich so gut wie alles versucht, um sie zu vergessen. In der Uni bin ich ihr, so gut es eben ging, aus dem Weg gegangen und auf Veranstaltungen, auf denen sie auch war, bin ich erst gar nicht aufgekreuzt. Ich hatte unsere Nachrichten gelöscht, ebenso wie ihre Nummer. Doch meine Gefühle und meinen Schmerz über die damalige Enttäuschung und Zurückweisung konnte ich nicht so einfach vergessen oder aus meinem Gedächtnis streichen. Dafür ist damals in der kurzen gemeinsamen Zeit zu viel passiert. Und eben genau dieser nicht aufhörende Schmerz war vor nicht mal ganz zwei Jahren der auslösende Grund für meinen Umzug gewesen. Meine Flucht. Eine Flucht vor ihr, unseren gemeinsamen Erinnerungen und zum Teil auch vor mir. In meiner Stadt hatte mich einfach alles an sie erinnert, jedes Mal hatte ich Angst davor, sie irgendwo durch Zufall zu treffen. Das war bei einer Millionenstadt vielleicht etwas übertrieben, doch nicht unmöglich gewesen. Ich wollte nicht bei jedem schwarzen Audi Ausschau nach ihr auf dem Fahrersitz halten und nicht bei jeder Frau mit kurzen, dunklen Haaren zusammenzucken. Ich wollte wieder ich selbst sein und vor allem frei von ihr.

So kam es, dass ich nach meinem Studium für mein Referendariat an einen Ort zog, der möglichst weit von Köln entfernt war. Nun lebte ich wieder in einer ruhigen Kleinstadt, obwohl es mich damals so sehr in die Großstadt gezogen hatte. Nun konnte ich mir kaum etwas Schöneres vorstellen als hier in Ruhe, in eine Wolldecke eingewickelt und mit einem Weinglas in der Hand, auf meinem Balkon zu liegen, das Meer aus der Ferne bis hierhin noch rauschen zu hören und den Tag Revue passieren zu lassen. Alles in allem fühlte ich mich nach langer Zeit wieder freier, wieder mehr wie ich selbst. Ich hatte die Möglichkeit bekommen als Mensch zu wachsen und aus meinen Fehlern zu lernen. Für diesen Moment war ich einfach bloß stolz darauf, dass ich diesen Schritt alleine gemacht und durchgezogen hatte, bis diese fremde Stadt endlich zu meinem Zuhause wurde. Ein Zuhause, in dem ich mich selbst neu entdecken und gleichzeitig wiederfinden konnte. Hier gab es keine Anne. Hier gab es nur mich, die Weite des Meeres und die kühlen Nächte auf meinem Balkon. Zumindest dachte ich das, bis ich eines Tages eines besseren belehrt werden sollte.

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