Kapitel 22 - „Oglum!"

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Die Fantasie ist bekanntlich grenzenlos. Der Mensch ist veranlagt dazu die Fantasie im Kopf zu entfachen und sich auszuprobieren. Als Kind hat man eher eine Fantasie von Märchen oder Dinosaurier oder anderen fiktiven Dingen. Doch mit der Zeit verbreitet sich die Fantasie mit den Wunschvorstellungen der Menschen.
Abends im Bett stellt man sich zum Beispiel das Bewerbungsgespräch am nächsten Tag vor und wie gut es ablaufen soll. Oder bevor man sich mit Jemanden trifft, den man mag, stellt man sich das Treffen vor und wünscht sich, dass es gut verlaufen wird.

Malik an meinem Rücken zu spüren, mit den Worten „Deinen Verlust werde ich nie verkraften." ließ auch meine Fantasie erblühen.

Ich drehe mich sehnsüchtig um und blicke in seine hellen, grünen Augen. Malik steht unmittelbar vor mir und feuchtet seine sanften Lippen. „Ich habe dich immer geliebt.", flüsterte ich mit einem hauchen. Malik streicht meine Haare hinter mein Ohr und beugt sich langsam runter. Sanft umschlingt seine Lippe meine und aus zärtlichen Küssen werden wildere, leidenschaftlichere. Sofort nehme ich seinen Eigenduft wahr. Langsam lässt er mich los und ich erwache aus meiner Fantasie. Nun stelle ich fest, dass die Realität ganz anders aussah.

Langsam ließ mich Malik los und ging wenige Schritte zurück. Ich wollte nicht, dass er ging und suchte nach einem Gesprächsthema. „Viel Glück.", kam aus meinem Mund geschossen. Malik musste nicht einmal nachfragen, was ich meinte. „Danke.", sagte er leise. Meine Hoffnung zerbrach und er verließ die Küche.

Ich fühlte mich wie ein Idiot. Wieso habe ich ihn gehen gelassen. Er hatte den ersten Schritt gewagt und mir gestanden, dass er meinen Verlust nicht verkraften konnte. Und ich traute mich nicht, mich ihm gegenüber zu öffnen. Zu sagen, dass ich ihn auch nie vergessen habe oder ihn vermisse. Feigling!

Mit getrockneten Tränen verließ ich die Küche und wollte zurück in den Garten, als ich ein Gespräch zwischen Bilal und seinem Vater belauschen konnte. Sie standen im Wohnzimmer und ich konnte deutlich hören, wie mein Name fiel.

„Bist du dir sicher mit Suzan?", fragte der Vater. „Ja, das bin ich. Mach dir um mich keinen Kopf. Die Firma hab ich trotzdem gut im Überblick." - „Das hoff ich für dich. Wenn du wegen ihr die Firma in Gefahr bringst.." Doch Bilal unterbrach ihn:" Wie gesagt, mach dir kein Kopf. Es wird sowieso nicht zur Hochzeit kommen. Ich werde sie und ihre Familie früher oder später rausschmeißen."

Mir stockte der Atem. Dass Bilal die Hochzeit nicht durchziehen wollte erleichterte mich. Ich wusste auch, dass wir nicht ewig im Haus nebenan wohnen könnten. Doch diese Worte trafen mich auf die ein oder andere Weise trotzdem. Ich wollte meine Familie und mich aus den Klauen von der Güven-Familie befreien. Doch wir waren Mittendrin.

„Rede mit Kübra.", ergänzte der Vater. Was meinte er damit? „Sie wird wegen der Verlobung bestimmt einen Aufstand machen." Bilal versicherte ihm:" Ich hindere sie dabei. Sie wird nicht weiterhin ein Probleme sein. Dafür sorge ich."

Mit leisen Schritten schlich ich mich in den Garten, wo meine Mutter mir in die Arme rannte.
„Herzlichen Glückwunsch, mein Kind." Sie drückte mich ganz fest. „Ich wurde nach dem Antrag sofort angerufen. Bilal und du seit so ein süßes Paar. Aber meinst du, es ist nicht ein wenig zu früh?" Ich täuschte ein Lächeln vor:" Ach Quatsch, wir kennen uns in- und auswendig."

Meiner Mutter dachte, dass ich an dem Tag, an dem ich ihr damals alles über Malik und unserem ersten Treffen erzählt hatte, eigentlich über Bilal sprach. Ich konnte ihr nicht die Wahrheit gestehen, denn sonst würde sie mich für total dumm abstempeln. Zu wissen, dass ich für Sie mit jemanden eine Beziehung führte, den ich verabscheute, würde sie verletzten. Meine Mutter wollte nie meine Hilfe. Sie wollte sich nie eingestehen, dass sie meine Unterstützung im finanziellen Bereich benötigte. Doch sie tat es.

„Ich vertrau dir. Wenn er dich verletzten sollte oder sonst was passiert, kommst du sofort zu mir." Ich nickte und mein Bruder schenkte mir ebenfalls eine Umarmung. Er ließ mich jedoch nicht los, sondern flüsterte in mein Ohr:" Ich weiß, was hier gespielt wird, Suzan."

Misstrauisch ließ ihn langsam los und sah ihn dementsprechend auch an, doch er drückte mich zurück an sich und ergänzte:"Beiß die Zähne zusammen, du musst es nicht mehr lange mit denen aushalten. Bald sind wir diese Familie los." Ich nickte.

Emre wusste anscheinend von unserem Schwindel. Eine Erleichterung machte sich an meinem Körper breit. Was hatte Emre allerdings vor? Bilal hatte ihn und mich förmlich in der Hand.

Bilal selbst unterbrach meine Gedanken. Emre und meine Mutter waren inzwischen schon weg. „Morgen Abend ist ein geschäftliches Treffen. Wir haben neue Investoren für unsere Firma und du, als meine frisch Verlobte wirst mich begleiten. Deine Mutter wird auch teilnehmen." Ich nickte und würdigte ihm kein einzigen Blick mehr.

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Am nächsten Tag stand ich recht früh auf, zog mir eine Jogginghose und ein Pulli an und verließ mit Musik im Ohr das Haus. Die letzten Tage waren besonders überrumpelnd und ich musste meine Gedanken sortieren. Da gab es einmal Malik und seine Worte, an die ich dachte. Oder Bilals und meine Verlobung. Auch die Worte von Emre. Vorallem das Gespräch zwischen Bilal und seinem Vater. Alles Dinge, die mein Kopf nur langsam verdauen konnte. Ich war einfach nur verwirrt und erschöpft.

Doch dann traf mich auch schon der nächste Schlag. An einem naheliegender Spielplatz angekommen sah ich Ilayda, die auf einer Bank saß. Mit einem Kind, was geschätzt um die 2 Jahre alt war. Sie fütterte es und ich konnte meinen Augen nicht trauen.

Bevor ich auf falsche Gedanken kommen wollte, redete ich mir ein, dass es ihr kleiner Bruder oder Cousin sei. Doch als der kleine aufstand und auf die Schaukel zuraunte, rannte Ilayda ihm hinterher. Sie schrie:" Oglum! (mein Sohn) Bleib stehen. Du musst das noch aufessen, bevor du spielen gehst."

Ich stand wie versteinert und konnte nicht reagieren. Hatte Ilayda wirklich einen Sohn? Und war er vielleicht auch Maliks Sohn?

Kopfschüttelnd rannte ich in eine Sackgasse, in der sich keiner aufhielt. An der Wand angelehnt, ließ ich meine Tränen freien Lauf. Ich war erschöpft. Was hätte ich als erstes verarbeiten sollen? Bilal, Emre, Kübra, Malik oder Ilayda?

Ich ließ mich zu Boden fallen und hatte keine Beherrschung mehr. Es war mir so egal, ob irgendwelche Menschen mich sahen oder was sie dachten. Ich schrie und weinte, denn ich hielt es nicht mehr aus. Ich wollte das all die Schmerzen änderten. Ich wollte doch nur mit Malik zusammen sein und ich wollte ein normales Leben führen.

Jedes Stück Hoffnung in meinem Leben war ein Anfang einer neuen Enttäuschung.

MALIKWo Geschichten leben. Entdecke jetzt