Kapitel 23 - das Zusammentreffen

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„Was stimmt nicht mit unserer Schwester?", frage ich vorsichtig Emre. Auf der Bank vor dem Krankenhaus saßen wir schon seit 1 Stunde und Emre sah versteinert auf den Boden. Er gab mir vorerst keine Antwort. Langsam hob er seinen Kopf und wusch sich mit seinem Ärmel die Tränen weg.

Obwohl Emre nur 3 Jahre älter ist als ich, war er zu der Zeit so viel reifer. Ihr müsst euch vorstellen, meine kleine Schwester starb und ich war zehn Jahre alt. Ich bekam nicht immer alles mit und wurde aus vielen Gesprächen über sie distanziert. Man hatte mich klar von dem Lebensabschnitt entfernt, damit meine Psyche nicht darunter litt. Doch Emre war auch gerade mal 13 Jahre alt und trotzdem bekam er alles mit. Er musste meiner Mutter und meinem Vater durch diese schwere Zeit helfen. Emre war für mich schon immer wie ein Vater, weil er sich so reif verhielt. Bis zu dem Tag sah ich es immer negativ, dass er sich wie ein beschützender Vater benahm und sich wie mein Vorgesetzter verhielt. Doch nun begriff ich, dass genau die Zeit, seine Vergangenheit ihn dazu brachte, mich so zu beschützen, immer auf mich aufzupassen. Auch wenn er nur 3 Jahre älter war.

Der Tag, an dem unsere Schwester endgültig starb, war sein Wendepunkt im Leben. Er veränderte sich drastisch.

„Unsere Schwester ist an einem besseren Ort.", kam schweres Herzens aus ihm hinaus. Ich merkte, wie er mit sich selber zu kämpfen hatte, um mir eine konkrete Antwort zu geben. Um jeden Preis wollte er verhindern, dass ich den Ernst der Lage begriff.

„Wieso weint denn dann jeder?", fragte ich neugierig. Er sah mich missverstanden an. „Wenn sie an einem besseren Ort ist..", ich machte eine Pause, atmete einmal tief ein und aus und fuhr fort:" Wieso weint dann jeder?"

Das war der Knackpunkt und Emre weinte los. Ich wusste nicht, wie ich mich zu verhalten hatte. Er hielt seine Hände vors Gesicht und ich verstand endlich, wie Ernst die Situation war.

Als ich selber 13 Jahre alt war, klärte mich mein Bruder endlich auf. Dass unsere kleine Schwester vorerst nur eine Leseschwäche hatte, doch nach Untersuchungen festgestellt wurde, dass sie Demenz hatte. Dass ihre Demenz so stark ausgebreitet war, dass ihre Netzhaut sich abbaute und sie erblindete. Auch, dass ihre Nervenzellen abstarben und sie weder selbstständig schlucken oder atmen konnte.

An dem Tag, an dem ich alles erfuhr und nun verstand, wieso meine Familie zerbrach, änderte ich, ähnlich wie Emre, meine Grundeinstellung. Ich war nicht mehr das Kind der Familie, sondern die seelische Stütze meiner Mutter. Ich stand von dem Tag an nur noch an ihrer Seite. Da ich Emre nun die Arbeit abnahm, fand er drastisch neue Freunde, die seinen Kummer mit ihm teilten. Unter ihnen auch Bilal.

Meine Mutter war die stärkste Frau, die ich kannte und alleine in dieser Gasse, auf dem Boden sitzend und an die Vergangenheit denkend, fiel mir auf, was von Anfang an mein Ziel war: Meiner Mutter, Emre und mir ein besseres Leben zu ermöglichen. Und ich realisierte, dass es nicht bei Bilal begann, auch wenn er uns ein Haus und einen Job zur Verfügung stellte. Letztendlich könnten wir jeder Zeit rausgeworfen werden.

Ich wusste, ich musste Malik verdrängen und an mich und meine Familie denken. Schließlich hatte ich mich vor 2 Monaten für genau das entschieden.

Langsam stand ich auf und machte mich langsam auf dem Weg nach Hause. Mir wurde klar, dass ich nach 2 Monaten endlich etwas gegen Bilal unternehmen musste. Er hatte uns in der Hand und spielte mit uns. Ich wusste auch schon, wo ich anfangen musste.

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„Ich bin überrascht, dass du mich angerufen hast."

MALIKWo Geschichten leben. Entdecke jetzt