Sonntag, der 01. September 1991

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Nadja wachte mit einem tiefen Atemzug auf. Das Licht blendete sie eine Weile, ehe sie ihre Umgebung konkret wahrnehmen konnte. Unter ihr lag leicht nasses Laub. Über ihr erkannte die Schwarzhaarige eine Dichte an Baumkronen.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
Sie sah an sich herunter. Sie trug schwarze Klamotten. Ihr Unterbewusstsein sagte ihr aber, dass sie vor der Zeitreise noch etwas anderes getragen hatte.
Die filigrane Kette mit einem bekannten Zeichen lag auf ihrer Brust und sie spürte einen Herzschlag. Er war aber recht unregelmäßig und anders als ihr eigener. Ging das Klopfen etwa von der Kette aus? Und was glitzerte da eigentlich an ihrem Finger?

Ehe sie ihre Hand bewundern konnte, fing ein kleiner Junge an zu rufen: "Mummy, Mummy! Hier liegt ein Mädchen!" Der Junge lief zur Schwarzhaarigen und sah sie verdutzt, aber total lieb an. Er hatte tatsächlich zwei verschiedene Augenfarben. Heterochromie, erinnerte sich die Hexe.
"Hey. Wie heißt du denn?", krächzte Nadja und versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen, ohne den Jungen in Angst und Schrecken zu versetzen.
"Ich bin Joey und du?", er musterte sie neugierig und ließ sich neben ihr nieder. Er hatte hellblondes Haar und war vielleicht süße fünf Jahre alt. Kurz kam ihr der Gedanke, dass er später ein richtig hübscher Kerl sein würde.
"Ich heiße Nadja und habe mich wahrscheinlich verlaufen.", gab sie zu. Hoffentlich durchblickte er ihre Lüge nicht. Der Bub schien nämlich ziemlich schlau zu sein.
"Wo sind denn deine Eltern?", anscheinend sah Nadja für ihn noch ziemlich jung aus.
"Ich weiß es nicht. Wo-", aber die Hexe spürte, dass ihr wieder übel wurde. "Kannst du schnell zu deiner Mummy laufen und mir ein Glas Wasser holen?"
"Natürlich! Ich bin gleich wieder da.", und der kleine Mann rannte zurück, während die ehemalige Slytherin ihre nächste Zeitreise durchlebte. Sie hoffte, dass Joey wegen ihr nicht paranoid wird und er noch das schönste Leben vor sich haben würde.

Als Nadja das nächste Mal aufwachte, erkannte sie die Umgebung sofort. Der eiskalte Boden und die nassen Fliesen erinnerten sie daran, wo sie vor der Zeitreise gewesen war. 
Ihre Begegnung mit diesem Jungen verunsicherte sie. Nadja konnte nicht einschätzen, ob es ein Zeitsprung gewesen war oder einfach nur ein harmloser Traum. Sie spürte zumindest keine anderen Herzgeräusche mehr.
Wie von Slughorn empfohlen, zückte die Hexe ihren Zauberstab und ließ das heutige Datum an die Wand schreiben: 01.09.1991.
"46 Jahre später? Das ist mal eine Hausnummer.", murmelte sie zu sich selbst, ehe sie dem Basilisken eine Mahlzeit zauberte.
Die lange Zeitreise hinterließ noch Wunden an ihrem Körper und sie war noch ziemlich schwach. Irgendwie fühlte sie sich, als wäre sie von den Toten auferstanden. Sie erkannte sich selbst nicht mehr. Als hätte die Reise einiges verändert.
Sie dachte wieder an den Abend im anderen Jahrzehnt. Das Letzte, was sie damals gehört hatte, war Tom, der sie anflehte, bei ihm zu bleiben.
"Riddle!", rief die Schwarzhaarige geschockt aus. Sie musste ihn schleunigst finden. Vergessen war Dumbledores Rat, ihren Hauslehrern eine Eule zu schicken. Vergessen waren die anderen Zeitreisenden. Alles, was für Nadja zählte, war Tom Riddle zu finden. Und der konnte nach 46 Jahren überall sein. Doch dank eines kurzen Zischens wusste sie, was zu tun war.

Während die eine sich aus dem Schloss schlich, wachte die andere panisch in der großen Halle auf.

Tally hatte mehr Glück. Mit leichten Kopfschmerzen saß sie sich auf und blickte direkt in die nun veralteten Augen ihres ehemaligen Hauslehrers. "Professor Dumbledore!"
"Schön, dass Sie zurück sind, Miss Marohn.", lächelte er sie an und reichte ihr ein Stück Schokolade, damit sie wieder auf die Beine kam.
"Wo sind die anderen zwei?", fragte Tally müde.
Albus sah sie mitfühlend an. "Emmi sucht gerade nach Nadja. Deine Mitzeitreisende ist bis jetzt nirgends aufzufinden."
Die Blauäugige seufzte tief und ahnte bereits, dass sie die Slytherin so schnell nicht mehr zu Gesicht bekommen würde. 

Und so war es auch. Nadja war nach Little Hangleton appariert und suchte dort nach Tom. Natürlich konnte sie ihn nicht im alten Anwesen seiner ermordeten Großeltern anfinden. Sie fühlte sich dort aber einigermaßen sicher, weshalb sie für eine Weile in ihrem alten Himmelbett übernachtete. Jedes Mal, wenn sie von Albträumen geplagt wurde und dann schreiend aufwachte, kam kein Tom Riddle angerannt, um nach ihr zu sehen. Das tat ihr im Herzen weh und sie fing an, zu verbittern.
Einzig und allein der Ring an ihrem Finger heiterte sie regelmäßig auf. Er konnte von niemand anderem außer von Riddle sein. Sie konnte sich zwar nicht mehr erinnern, aber irgendwie wusste sie, dass dies kein Zeichen einer Verlobung war. Welche Bedeutung konnte der Ring sonst haben?
Im Haus hatte sich nichts verändert. Vielleicht waren mehr Spinnweben da, aber ansonsten schien Tom alles so gelassen zu haben. War er in der Zwischenzeit überhaupt hier gewesen? Nadja entschied sich, einen Abstecher ins Dorf zu machen. Vielleicht konnte sie dort etwas herausfinden;  denn Hinweise hatte er ihr hier keine hinterlassen.
Im Dorf lief auch alles ab wie früher. Die Menschen sahen noch gleich gelangweilt aus. Der Markt war noch der alte. Der Brunnen war immer noch kaputt. Die Häuser waren heruntergekommen.
Sie kaufte ein paar Sachen zum Überleben, mit dem Geld, was noch im Haus herumlag. Ihr ging es zusammenfassend also ziemlich gut, bloß Riddle fehlte ihr an ihrer Seite.
Nach einiger Zeit dachte sie dann auch wieder an ihre Mitzeitreisenden. War Emmi überhaupt noch am Leben? Und was machte Tally jetzt wohl? Ging es ihr denn gut?
Tief im Inneren bildete sich so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Wieso war ihre höchste Priorität nun Riddle und nicht mehr ihre beste Freundin und die Zeitreise?
Genau wie in der Kammer des Schreckens zischte ihr erneut jemand etwas zu und ihr Plan konkretisierte sich endgültig.


"Wir können sie nirgends finden.", Tally und Emmi waren in der Großen Halle bei Professor Dumbledore, der mittlerweile Schulleiter war.
"Gebt ihr Zeit. Sie wird sich melden, wenn sie so weit ist.", hatte Albus ihnen geraten und die beiden Verwandten tauschten verwirrte Blicke. Auch wenn sie nicht da war, machte sich Tally irgendwie keine Sorgen mehr. Nadja war erwachsen und konnte ganz gut für sich selbst sorgen.
"Miss Marohn, kommen Sie bitte in mein Büro.", meinte Dumbledore und beendete damit Tallys Suche.

"Nach meinen Recherchen in den letzten Jahren war deine Mitzeitreisende unsterblich in den jungen Riddle verliebt. Ich gehe davon aus, dass sie jetzt auf der Suche nach ihm ist. Aber was sie nicht weiß: das könnte ziemlich gefährlich werden.", erklärte der Schuleiter in seinem Büro.
"Wieso denn? Ist er noch am Leben?", fragte Tally und malte sich bereits die Schlimmsten Szenarien aus, die sich sogleich auch verwirklichten.
Dumbledore seufzte: "Das weiß keiner so genau. Vor geraumer Zeit kam Tom Riddle als Lord Voldemort an die Macht und wurde zum dunkelsten Magier, den man je gesehen hatte. Bis sich vor genau elf Jahren ein kleiner Junge seine Pläne durchkreuzte."
Tally sah ihren ehemaligen Hauslehrer gespannt an. Auch wenn sie sich vor dieser Geschichte fürchtete, wollte sie wissen, wie es weiterging.
"Der Junge namens Harry Potter hat als Einziger den Todesfluch von Voldemort überlebt. Die Kraft des Fluches prallte zurück und der mächtige Riddle verlor seine Kräfte. Seitdem hat ihn keiner mehr gesehen.", erzählte Dumbledore zu Ende.
Die ehemalige Gryffindor schluckte schwer. "Und das weiß Nadja alles gar nicht."
"Ja. Der junge Tom hat sich ganz schön verändert. Miss Pritchard wird ihn wohl nicht mehr wiedererkennen.", schlussfolgerte der Schulleiter.
"Wird sie zur Vernunft kommen?", fragte Tally kleinlaut.
"Erst wenn sie ihn gefunden hat.", Dumbledore sah mitfühlend zu seiner ehemaligen Schülerin. "Viel interessanter ist aber, dass der Junge, welcher Voldemort in die Flucht getrieben hat, genau in diesem Jahr nach Hogwarts kommt."
"Das kann kein Zufall sein.", überlegte die Gryffindor laut.
Dumbledore stimmte ihr zu. "Wir müssen gut auf ihn aufpassen. Er ist Voldemorts nächstes Ziel."
"Unser Ziel, Sir?", fragte Tally.
"Es sei denn, du willst weiter nach deiner verschollenen Freundin suchen?", Albus zog eine Augenbraue hoch. 
Tally seufzte. "Das hilft sowieso nichts. Also ja: Ich werde den Jungen beschützen."
Zu diesem Zeitpunkt wusste Tally noch nicht, dass sie gerade ein Teil des Orden des Phönix' wurde.

Die Löwin war im Anschluss an dieses Gespräch zurück zu Emmi appariert. Ihr blieb nichts anderes übrig, als auf ihre Mitzeitreisende zu warten. Die Slytherin musste wohl oder übel selbst herausfinden, wie schrecklich Riddle geworden war.

Trapped in Time || Hogwarts FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt