5.

250 15 0
                                    

Ich stand vor Class' Wohnungstür und war erleichtert endlich hier zu sein. Mein großer Bruder war immer mein Halt gewesen und gerade jetzt brauchte ich ihn mehr denn je.

Auf der Fahrt hier her gingen mir eine Millionen Gedanken im Kopf herum. Ich suchte nach Erklärungen. Warum Noah so etwas nur tun konnte. Warum ich so blind sein konnte. Und vor allem Dingen: was habe ich falsch gemacht, damit es überhaupt dazu kam. Schließlich macht man so etwas nicht grundlos! Hätte er mich wirklich so geliebt, wie ich ihn, dann hätte er sich keine andere gesucht...

Ich klingelte und wartete bis er aufmachte. Je länger es dauerte, desto nervöser wurde ich. Ich schob meine Tasche, die schwer auf meiner Schulter hing, wieder nach oben, sodass es irgendwie angenehm anfühlte.
Doch als sich die Tür öffnete stand jemand vor mir, den ich hier nicht erwartet hätte.

„Pi?", fragte ich und starrte ihn an. Was machte er denn hier? „Hey Ally.", gab er zurück. Er trug einen grauen Pulli und eine schwarze Jogginghose. „Was machst du denn hier?".
„Ich wohne jetzt hier."
Meine Kinnlade klappte nach unten. Wann ist das denn passiert?! Und vor allem, warum hat Class nicht erwähnt, dass er jetzt einen Mitbewohner hatte?
Doch dann schoss es mir! Vor ein paar Tagen hatte er gemeint, dass er jemanden gefunden hätte, der das freie Zimmer mieten würde, doch das es Pi ist hat er nicht gesagt!

„Ist Class da?", fragte ich und versucht möglichst normal zu klingen. „Der hat gerade ein Date.", sagte Pi. „Mit wem?". „Mir einem Mädchen namens Kira.", antworte er. Ich zog meine Augenbrauen nach oben. „Tätowier-Kira?", lachte ich. „Ja, genau die.", lachte er. Ich kannte Kira schon ewig. Class und ich ließen uns beide unsere Tattoos bei ihr stechen. Ich wusste, dass er sie süß fand und freute mich für ihn, dass er seinen Mut zusammen genommen hat und sie endlich mal nach einem Date gefragt hat!

Doch dann wurde mir klar, dass er nicht hier war und ich gerade ziemlich hilflos hier rum stand und nicht wusste wohin...
Wieder hatte ich das Gefühl in Tränen auszubrechen, doch ich versuchte stark zu bleiben.

„Alles okay?", fragte er und sah mich besorgt an.
Ich quälte mich zu einem Lächeln doch schon schossen mir die Tränen in die Augen und ich wusste es war zu spät.
Ich schüttelte nur mit dem Kopf und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Ich begann wieder zu weinen.

Plötzlich spürte ich zwei starke Arme, die sich um mich schlangen und ohne darüber nachzudenken, erwiderte ich Pi's Umarmung. Und ich fühlte mich in diesem Moment sicher. Ich wusste, dass jemand da war.

Als er sich von mir löste wischte ich mir die Tränen von den Wangen und schaute beschämt zu Boden. Man, war das peinlich! Jetzt heule ich hier schon vor jemanden, den ich nicht mal richtig kenne. „Tut mir leid.", stottere ich heraus.
Er nahm mir meine Tasche ab und sagte: „Komm rein.". „Ich will dich nicht nerven...".
Er sah zu mir herunter. „Also erst einmal nervst du nicht. Zweitens ist das die Wohnung deines Bruders, das heißt du bist hier jederzeit willkommen. Und drittens würde Class mich umbringen, wenn er wüsste, dass ich dich in deinem Zustand weggeschickt hätte...also komm rein.", sagte er sanft und machte den Weg in den Flur frei.
Ich schniefte und ging langsam an ihm vorbei. Als er die Tür schloss stellte er meine Tasche ab und ich ging ins Wohnzimmer.

Ich ließ mich auf das Sofa fallen. Das hier war praktisch mein zweites zu Hause, aber trotzdem war es merkwürdig nicht mit Class hier zu sein. Während ich hier so alleine saß verlor ich mich wieder in meinen Gedanken...
Ein paar Minuten später kam Pi herein und holte mich zurück ins Hier und Jetzt. Er brachte mir ein Tasse heiße Schokolade. „Hier, ich dachte das könnte vielleicht etwas helfen.", sagte er. „Danke.", ich lächelte sogar etwas.

Pi setzte sich neben mich auf das Sofa. „Willst du drüber reden?", fragte er leise. Tja, keine Ahnung. Wollte ich das? „Du musst natürlich nicht, wenn du nicht willst.", fügte er schnell hinzu. „Nein ist schon okay. Ich schätze ich muss jetzt einfach mit irgendjemanden darüber reden...", sagte ich traurig.
Er sah mich an wartete darauf, dass ich anfing zu erzählen. „Also, ich habe gerade herausgefunden, dass mein Freund mich wohl seit einer ganzen Weile betrogen hat. Als ich nach Hause gekommen bin hab ich ihn einer blonden Tussi erwischt...".
„Wow...das tut mir echt leid...", sagte er. Ich blieb still.

„Ich versteh nur nicht warum...", sagte ich dann irgendwann. „Ich meine, einen Grund muss es ja geben...", fügte ich hinzu und klang schon fast verzweifelt.
„Also wenn du mich fragst, wenn er dich betrügen muss, weil du ihm ja anscheinend nicht genug bist ist das nur ein Beweis dafür, dass er so jemand tolles wie dich einfach nicht verdient hat.", sagte er.
Ich schaute zu ihm und sah, dass er mich tief in die Augen schaute. Erst jetzt fiel mir auf, wie grün seine Augen eigentlich waren. Das ist mir vorher nie so aufgefallen.
„Danke Pi.", sagte ich etwas verlegen und brachte zum ersten Mal wieder ein richtiges Lächeln auf mein Gesicht.

Wir saßen für eine Weile einfach nur so da, dann fragte Pi: „Willst du mit einen Film gucken?". Ich nickte. „Gern. Solange es keine Liebesschnulze ist! Dafür bin ich nicht wirklich in Stimmung.", antwortete ich und versuchte die Situation etwas aufzulockern. „Geht klar.", sagte er und lächelte.

Er machte irgendeinen Thriller an. Ich hatte es mir auf dem Sofa gemütlich gemacht, dich irgendwann wurden meine Lider schwer und ich döste weg.

My NightingaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt