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„Oh. Mein. Gott.", das war alles, was Ashley dazu sagen konnte, als ich ihr den Brief gezeigt hatte. „Echt krass.", kam es von Fabio, der Ashley den Brief aus der Hand nahm, um ihn selbst noch einmal zu lesen. Meine Mitbewohnerin nahm mich in den Arm und versuchte mich zu trösten.

Eigentlich hätte ich traurig sein sollen. Mir sollte womöglich nach schreien zumute sein. Doch nichts passiert. Ich fühlte nichts. Seit ich den Brief zum ersten Mal gelesen hatte war ich wie in einem Schockzustand gefangen. Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Und selbst jetzt, nachdem ich den Brief zum gefühlt hundertsten Mal gelesen habe kommt es mir vor, als wäre ich bloß ein emotionsloser Roboter, der einfach nur so vor sich hin lebte.

„Was wirst du tun?", fragte Fabio. Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte keine Ahnung. Ich könnte zurück nach Hamburg, mich dort der Realität und meinen Problemen stellen. Immerhin hatte ich nun hier keinen Job mehr. Meine Freunde sind wohl die einzige Sache, die mich noch in Berlin halten würde. Doch der Gedanke, nach Hamburg zurück zu gehen, machte mir Angst. Könnte ich es wirklich ertragen, Pi ständig über den Weg zu laufen und zu wissen, dass ihn womöglich für immer verloren habe? Was, wenn ich ihm nichts mehr bedeute und diese Worte auf dem Papier nun wirklich so eine Art Abschied waren? Darüber wollte ich nicht nachdenken.

Ich fühlte mich plötzlich so eingeengt und hatte das Gefühl, hier in diesem Zimmer keine Luft mehr zu bekommen. „Ich muss mal an die frische Luft.", sagte ich plötzlich und sprang schon regelrecht von dem Sofa auf. Ashley und Fabio schienen meine Nervosität bemerkt zu haben und sahen mich besorgt an. „Sicher, dass nicht einer von uns mitkommen soll?", fragte Fabio. Ich nickte. Dann zog ich mir eine Jacke an, setzte mir eine Mütze auf und verließ die Wohnung, ohne ein weiteres Wort zu den beiden zu sagen.

Ohne Ziel vor Augen lief ich durch die Straßen Berlins. Ich versuchte, den Kopf frei zu kriegen und auf andere Gedanken zu kommen. Ich war bestimmt schon über eine Stunde unterwegs, als mir etwas auffiel. Die Gegend kam mir bekannt vor. Doch wie konnte das sein? Ich konnte mich nicht erinnern, jemals hier gewesen zu sein. Zumindest nicht, seit ich hier in Berlin wohnte. Außerdem war es ein eher ruhiger Stadtteil, also was war es, was so ein bekanntes Gefühl in mir weckte?

Ich ging weiter und kam an einem alten Maschendrahtzaun vorbei, in dem sich ein Loch befand. Das Grundstück hinter dem Zaun war ganz verwildert und zugewachsen. Dahinter erstreckte sich ein altes, heruntergekommenes Gebäude. Ich stockte, als mor klar wurde, wo ich war.
Hier war ich wirklich schon mal.
Mit Pi.

Damals, als die Jungs hier in Berlin einen Auftritt hatten.
Ohne groß darüber nachzudenken, was ich tat, schaute ich einmal nach links und rechts und schlüpfte als die Lift rein war durch den Zaun. Ich ging über das Grundstück als wäre ich schon tausende Male hier gewesen. Ich ging am Haus entlang bis ich zu der morsch aussehenden Leiter kam, die sich an der Hauswand befand.
Ich kletterte hinauf und befand mich wenige Sekunden auf dem Dach.

Es war wie damals. Die Hochhäuser erstreckten sich vor mir und auch der Fernsehturm war von hier aus zu sehen.
Ich setzte mich auf einen kleinen Absatz. So viele Erinnerungen erschienen vor meinem inneren Auge. Genau hier haben wir gesessen, als er mir dir Polaroidkamera geschenkt hat...und hier war auch das erste Mal, dass er mir sagte, dass er mich liebt.
Alles passierte hier.

Ein unangenehmer Schauer für mir über den Rücken und eine Gänsehaut bildete sich auf meiner Haut.
Ich griff in meine Jackentasche und zog den Brief heraus.
Wieder einmal las ich seine Worte und spürte plötzlich wieder den Schmerz in meiner Brust. Die Angst, ihn verloren zu haben.
Was sollte ich nur tun?
In diesem Moment kamen alle meine Gefühle wieder hoch und ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Ich fing an zu weinen.

So viele Erinnerungen schossen mir in den Kopf und ich konnte sie nicht ignorieren.
Der Tag, an dem ich ihn kennenlernte.
Der Tag, an dem ich ihn das erste Mal geküsst hatte.
Der Tag, an dem wir unsere heimliche Beziehung angefangen haben.
Der Tag, an dem er mir sagte, dass er mich liebte.
Die Trennung, die Hochzeit von Nik, unsere gemeinsame Wohnung.
Einfach alles.

Wir hatten echt so viel zusammen durchgestanden. Gutes, als auch Schlechtes. Aber unsere Schwächen haben wir zu Stärken gemacht. Wir haben für das, was wir hatten gekämpft. Und das nicht nur einmal.
Wir beide gegen den Rest der Welt.
So war es eben. Als ich mich in Pi verliebt hatte, wusste ich, dass wir alles schaffen könnten. Das wir nicht eins dieser Paare sind, die keine Krise überstehen würden. Nein, so waren wir nicht. Wir waren viel stärker, als man vielleicht glauben mag.
Doch jetzt hatte ich das Gefühl, dass unsere Mühen womöglich komplett vergebens waren. Ich dachte nach. War es denn so? Hatten wir noch die Chance auf eine gemeinsame Zukunft?

Ich weinte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigen konnte. Ich schaute auf meine Hände, die das Stück Papier festhielten.
Meine Gedanken drehten sich im Kreis.
Es dauerte eine Weile, aber je länger ich darüber nachdachte, umso geordneter wurden meine Gedanken.

Und schließlich kam ich zu einer Entscheidung...

My NightingaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt