26.

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Besuch? Wer könnte das wohl sein?

Sie trat zur Seite und jemand kam ins Wohnzimmer. Er stand vor mir und sah mich schon fast traurig an. Ich hatte ihn nur ein paar Tage nicht gesehen, doch es fühlte sich an wie eine halbe Ewigkeit. Er war hier. Er war wirklich hier!

„Können wir reden?", fragte er. Ich nickte und ging auf ihn zu. Ich schloss ihn in meine Arme und war so erleichtert, meinen großen Bruder endlich wieder zu haben. Ich war so glücklich, dass sich Tränen in meinen Augen bildeten.

„Ich lass euch allein.", sagte Lilith und zog sich in ihr Zimmer zurück.
Class und ich setzten uns auf das Sofa und irgendwie wusste keiner so richtig, wo wir anfangen sollten.

„Wie geht es dir?", fragte er zögerlich. Ich zuckte nur mit den Schultern und sagte: „Beschissen."
Class nickte und sah zu Boden. „Es tut mir leid, okay?", begann er. Ich sah ihn an. Man sah ihm an, dass er sich ziemlich schlecht fühlte.
„Ich wollte nicht, dass das alles so endet. Ich bin so bescheuert!", fuhr er fort und vergrub sein Gesicht in den Händen. Ich wollte ihm widersprechen, doch eigentlich hatte er ja recht. Hätte er diesen Stress nicht angefangen, wäre alles so viel leichter gewesen.

„Wie...wie geht's Pi?", fragte ich zögerlich. Wie sollte es ihm schon gehen? Höchstwahrscheinlich ging es ihn genau so wie mir...wenn nicht sogar noch schlimmer, dachte ich mir. Sofort schossen mir die Bilder in den Kopf, wie er mich angesehen hat, als ich die Sache zwischen uns beendet hatte. Dieser Gesichtsausdruck hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt und ich fühlte mich deswegen immer noch furchtbar.

„Naja, an dem Tag als du so plötzlich verschwunden bist, habe ich gleich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Er kam herein und war sehr reizbar und schlecht gelaunt. Chris ist zu ihm und hat gefragt, was los ist. Er hat ihm erzählt, was du getan hast. Pi war die ganze Zeit über echt fertig. Auch beim Konzert war er nicht richtig bei der Sache..."

Ich stellte es mir bildlich vor und es tat mehr weh als gedacht.
„Er hat sich an den anderen Tagen sehr zurückgezogen. Er wollte nicht mit uns die Stadt erkunden und auch kaum mit jemandem reden. Und wenn er abends auf der Bühne stand, war es so, als würde er eine Maske aufsetzen. Er hat zwar gelacht, aber uns allen war klar, dass es nicht echt ist.", fuhr Class fort.
Auch wenn ich es schon fast nicht ertragen konnte, ich musste es mir anhören. Ich wollte wissen, wie es Pi ging.

„Am Samstag nach der Show bin ich auf ihn zugegangen. Wir fingen an zu reden. Richtig zu reden. Er hat mir alles erzählt. Von dem Moment, als du bei uns eingezogen bist, als er Noah verdroschen hat...worauf ich ehrlich gesagt etwas neidisch bin! Dieses Arschloch hätte ich am liebsten selbst fertig gemacht!"
Ich schmunzelte kurz.
Dann erzählte er weiter: „Er hat mir erzählt, wie ihr euch näher gekommen seit. Und er hat mir erklärt, warum ihr die Beziehung geheim halten wolltet. Ich weiß auch von der Sache in Berlin."

Der nächtliche Ausflug durch die Straßen Berlins. Die Nacht, in der er mir das erste Mal sagte, dass er mich liebt. Wie könnte ich das vergessen?

Class sah wieder zu Boden und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Mir war nicht klar, dass das mit euch so ernst ist...", sagte er. Ich nickte kurz. Ich wusste ehrlich gesagt nicht, was ich darauf erwidern hätte können.
„Hast du wirklich gedacht, du könntest mich verlieren?", er klang so unsicher und schon fast traurig.

Tja, was sollte ich darauf jetzt sagen? Wieder nickte ich.
Class stöhnte leise. „Ally! Du bist meine Schwester! Du wirst mich niemals verlieren.", sagte er. Mir schossen Tränen in die Augen.
„Ich hatte Angst, dass du mich hasst, weil ich dir nicht die Wahrheit gesagt habe...wir haben uns doch immer alles erzählt.", gab ich leise zu.

„Ich war sauer, ja. Aber ich könnte dich nicht hassen. Ich war wohl einfach nur total überfordert mit der ganzen Situation. Meine kleine Schwester mit meinem besten Freund. Das ist schon seltsam. Aber ich hatte Angst, dass du wieder verletzt wirst. Ich hab doch gesehen, wie fertig dich die Trennung gemacht hat. Ich wollte nicht, dass dir womöglich das Gleiche nochmal passiert wie mit Noah.", sagte Class.
„Das würde Pi nicht tun.", verteidigte ich ihn. Class blieb kurz still, als würde er darüber nachdenken.
„Ich weiß.", begann er. „Doch du bist nun mal meine kleine Schwester und ich mach mir halt Sorgen um dich."
„Ich bin schon groß. Ich kann auf mich aufpassen.", sagte ich zu ihm. Class lächelte. „Ja, das stimmt wohl.", sagte er.

Class und ich saßen still nebeneinander.
Dann sagte er plötzlich: „Pi liebt dich wirklich."

Ich sah ihn an. „Woher willst du das wissen?", fragte ich vorsichtig. „Die Art, wie er über dich gesprochen hat. Da wurde mir klar, dass du ihm wirklich wichtig bist. Und ich schätze mal, dir geht es genauso?"

Jetzt musste auch ich lächeln. Ich nickte und sagte: „Ja.".
„Wenn das so ist...dann will ich euch nicht im Weg stehen.", sagte Class.
Ich konnte nicht glauben, was er gerade gesagt hatte. „W-Wirklich?"
„Ja, ihr zwei scheint glücklich miteinander zu sein. Und ihr passt super zusammen. Ich will nicht der Grund sein, warum ihr nicht zusammensein könnt!"

„Danke.", sagte ich leise, als ich Class in den Arm schloss. Ich war erleichtert. Ich hätte nie gedacht, dass Class mir seinen Segen für die Beziehung mit Pi geben könnte, aber jetzt, da es passiert ist, hätte ich vor Freude weinen können.

„Ich muss mit ihm reden. Ich muss zu ihm.", sagte ich ganz aufgeregt, als ich mich von meinem Bruder löste. Ich sprang auf und ging mit schnellem Schritt aus dem Zimmer.

„Warte Ally!", rief Class mir hinterher. Ich drehte mich zu ihm um. „Was ist?", fragte ich.
„Er ist nicht da.", sagte er leise. „Wo ist er denn?", wollte ich wissen. „In Flensburg. Bei seinen Eltern. Er ist gleich losgefahren, als wir wieder angekommen waren. Er sagte, er braucht Zeit.".
„Wann kommt er wieder?". Class zuckte mit den Schultern. Sein Gesicht sah traurig aus. „Das weiß keiner. Man hat seit er los ist nichts mehr von ihm gehört...".
Mein Herz schmerzte. Ich musste mit ihm reden. Jetzt!

„Okay, dann rufe ich ihn an.", sagte ich und zog mein Handy aus der Tasche. Ich wählte Pi's Nummer und wartete. Je länger es klingelte, desto nervöser wurde ich.
Ich wollte seine Stimme hören, ihm sagen, dass es mir leid tat und das ich ihn liebte.
„Komm schon.", sagte ich leise ins Telefon. Dieses Piepen machte mich wahnsinnig.

Doch plötzlich veränderte sich der Ton. Das Piepen wurde schneller. Ich sah auf das Display. Er hat mich weggedrückt...
Ich stand wie ein Häufchen Elend hier im Flur und konnte nicht glauben, dass das hier wirklich passierte.
Ich versuchte es erneut. Wieder drückte er mich weg. „Bitte.", flüsterte ich. Wieder versuchte ich es. Fehlanzeige.
Ich spürte Class Arme, die sich um meinem Körper schlangen. Erst jetzt merkte ich, dass ich angefangen habe, zu weinen.

Ich hatte gehofft, er würde abnehmen und wir könnten diesen ganzen Mist klären.

Doch was, wenn er das nicht wollte? Wenn er mich jetzt hasste oder mich nicht mehr sehen wollte? Was, wenn ich Pi nun für immer verloren habe?

My NightingaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt