34.

150 9 0
                                    

Wir lagen in Pi's Bett und schauten noch einen Film auf seinem Laptop. Ich trug eins seiner T-Shirts. Erst einmal, weil ich es liebte, dass es so nach ihm roch und zweitens, weil ich wusste wie sehr er es liebte, wenn ich seine Klamotten trug.

Irgendwann machte Pi das Licht aus, kuschelte sich an mich und schlief schließlich ein. Ich war jedoch noch nicht so wirklich müde und meine Gedanken schweiften ab. Ich dachte an alles mögliche. An die Wohnung, Pi, an meine Zukunft.
Und während ich so über alles nachdachte, driftete ich schließlich ab und schlief auch ein.

Ich stand in einem langen Gang, der mir ziemlich bekannt vorkam. Dieses Ticken der großen Uhr an der Wand war schon fast unerträglich. Ich war allein. Keiner war zu sehen.
Ich ging den Gang entlang und fand mich plötzlich in einer Umkleidekabine wieder. Genauso sah sie auch damals in der Schule aus.
„Hey Ally.", hörte ich jemanden. Ich drehte mich um und erkannte ein paar Mädchen. Es waren...Kinder?
Eine von ihnen riss mir meine Tasche aus der Hand. „Gib sie wieder her!", rief ich. Doch sie hörte nicht auf mich. Stattdessen öffneten sie die Tür, die zu den Duschen führten und warfen meine Tasche hinein. Ich wollte sie wieder holen, doch als ich sie hatte packte mich ein anderes Mädchen an den Schultern und schubste mich zurück in den Duschraum.
Dann stockte ich. Im Spiegel, der an der gegenüberliegenden Wand hing sah ich mein Spiegelbild. Doch es war nicht die Ally von heute. Es war mein 10-jähriges Ich.
Das kleine Mädchen, mit den langen Haaren, dem Pullover mit einer Fee darauf und dem leidenden Gesichtsausdruck.
Ehe ich realisieren konnte, was passierte und ich überhaupt die Möglichkeit hatte, aus dem Duschraum zu kommen wurde die Tür zugeknallt. Das Licht im Raum erlosch. Es gab keine Fenster, die mir Licht spenden konnten. Ich wurde panisch und versuchte die Tür zu öffnen. Ohne Erfolg. Ich wusste, dass die Mädchen sie von draußen zuhielten, denn ich hörte sie lachen. Ich flehte sie an mich raus zu lassen, doch nichts half.
Irgendwann gab ich auf und ließ mich an der Tür auf den Boden sinken und betete, dass es bald vorbei sein würde.
Ich fing an mit weinen. Ich schloss die Augen, denn Dunkelheit mit geschlossenen Augen zu sehen war schließlich besser als mit offenen.
Plötzlich hörte ich eine Stimme. „Ally.".
Ich wollte die Augen nicht öffnen. Ich wollte nicht sehen, wie sie mich auslachten und wie Dreck behandeln.
„Ally."
Moment mal...das war keiner der Mädchen. Und auch keiner der Jungen.
„Ally."
Ich öffnete meine Augen und erblickte Pi, der vor mir kniete. Ich war nicht mehr in dem dunklen Duschraum. Wo genau ich mich befand wusste ich nicht.
Ich sah zu Pi, der mich traurig ansah und dann seine Hand nach mir ausstreckte. „Bitte wach auf."

Blitzartig öffnete ich meine Augen und schreckte zusammen. Mein Atem war schwer, meine Wangen tränennass.
„Ganz ruhig, Ally. Es ist alles gut.", flüsterte Pi mir zu und versuchte mich zu beruhigen. Ich brauchte einen Moment um meinen Atem wieder zu normalisieren. Das Licht der Nachttischlampe blendete meine Augen, die vom weinen etwas wehtaten.

Es war nur ein Traum.

Das sagte ich mir immer und immer wieder, bis ich es richtig realisieren konnte.
„Ich dachte sie hätten aufgehört...", flüsterte ich mehr zu mir selbst.
„Was?", fragte Pi.
„Die Albträume...", sagte ich leise.
Er sah mich verwundert, aber auch gleichzeitig mitfühlend an. Er strich mir sanft mit seiner Hand über den Arm, was mich sehr beruhigte.

„Es ist alles gut.", sagte er erneut. „Ich bin da.".
Dieser eine Satz war alles, was ich jetzt hören wollte. Ich kuschelte mich an ihn und er schlang seine Arme um mich und gab mir einen Kuss auf die Schläfe. „Willst du darüber reden?", fragte er vorsichtig.

Wollte ich es? Sollte ich es ihm erzählen?
Allein schon an den Gedanken daran, trieb es mir erneut Tränen in die Augen. Ich vermied es ihn anzusehen. Doch dann nickte ich schließlich. Ich fühlte mich bei ihm so sicher und ich wusste, dass er wohl der Letzte auf der Welt sein würde, der mich verurteilen würde. Das hat er noch nie getan.

„Es gibt da so einige Dinge, die du nicht über mich weißt...Dinge, die keiner über mich weiß."
Ich setzte mich auf und lehnte mich an das Kopfende des Bettes. Pi tat es mir gleich und nahm meine Hand. Sein Blick war erwartungsvoll, aber gleichzeitig auch traurig.

Ich atmete tief durch.
„Okay", begann ich, „Also meine Kindheit war nicht gerade besonders schön. Ich wurde ziemlich fertig gemacht in der Schule. Sie hielten mich für sonderbar und machten Witze über mich. Ich versuchte das zu ignorieren, was auch eigentlich gut klappte. Doch dann wurde es schlimmer..."
Wieder schossen mir Tränen in die Augen.
„Es begann mit Streichen, wie zum Beispiel Wasser auf den Stuhl kippen, sodass ich mich reinsetzte und es aussah, als hätte ich einen Unfall gehabt, bis hin das sie mich in Räumen, wie den Toiletten einsperrten oder so..."

Pi sagte nichts, sondern hörte nur zu. Ich wusste nicht, was er dachte. Ich konnte es nicht an seinem Blick lesen.

„Ich hatte gehofft, wenn ich älter bin hört das auf. Doch so war es nicht. Sie machten immer weiter. Sie stellten mich vor den anderen bloß, hauten mir echt gemeine Sachen an den Kopf oder lachten mich aus. Keiner unternahm etwas. Jeder Versuch der Lehrer, das Verhalten meiner Mitschüler zu zähmen scheiterte. Oder es interessierte sie nicht weiter. Ich weiß es nicht.
Ich hatte keinerlei Freunde. Der Einzige, der immer für mich da war, war Class. Doch auch er weiß nicht alles..."

Ich stoppte. Sollte ich weiter gehen und es ihm sagen? Diese eine Sache, die keiner über mich wusste und ich immer dachte, dass es niemals ans Licht kommt?

„Ich begann in Stressmomenten mich an den Armen und Beinen zu kratzen. Das hatte manchmal ziemliche Wunden hinterlassen. Manchmal waren meine Arme an manchen Stellen richtig blutig gekratzt. Die versteckte ich dann immer.", meine Stimme war kurz davor zu brechen. „Ich hatte schlimme Gedanken. Ich hatte mir ausgemalt, wie es wäre, wenn ich nicht mehr da wäre. Ich hab mir eingeredet, dass sie alle besser ohne mich wären. Schließlich hat es ja eh keinen interessiert.
Der einzige Grund, warum ich mir nicht mehr angetan habe, war mein Bruder. Ich konnte ihm so einen Schmerz nicht antun..."

Pi atmete tief aus und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Das musste ein ziemlicher Schock für ihn sein. Verständlicherweise...

„Das hab ich noch nie jemandem erzählt."
Es war komisch es laut auszusprechen, aber es fühlte sich gut an, auf eine schräge, doch gleichzeitig befreiende Weise.

„Ich hab angefangen mich mit anderen Dingen zu befassen. Ich hab mir eine eigene Welt geschaffen. So eine Art Seifenblase, in der man mir nichts anhaben konnte. Ich habe mich nicht mehr dafür interessiert, was andere von mir dachten.".

„Das tut mir leid Ally...also, das was man dir angetan hat...", war das Einzige, was Pi dazu sagen konnte. Ich nickte nur.

„Die Angst ist jedoch immer noch da...", sagte ich. „Was meinst du?", fragte er.
„Die Angst, dass ich wieder verletzt werde. Ich meine...mit uns läuft es gerade so gut, dass es schon zu schön ist um wahr zu sein...ich habe Angst, dich zu verlieren.", gab ich zu.

Er hielt meine Hand und sah mir in die Augen. „Du wirst mich nicht verlieren. Ich bleib, solange du mich willst, okay? Glaub mir, mich wirst du so schnell nicht los. Und ich finde es gut, dass du mir das erzählt hast. Das hat mir nur gezeigt, in was für eine starke Frau ich mich hier verliebt habe.", sagte er grinsend und ich kicherte. Das war so typisch Pi. Wieso wusste er auch immer, was er sagen sollte, um mich aufzumuntern?

Ich legte mich wieder hin und sah zu Pi, der sich neben mir abgestützt hatte und mich genauestens beobachtete.
„Du solltest aufhören an das zu denken, was sie zu dir gesagt haben.", sagte er. Ich sah ihn an. „Und weißt du auch warum?", fügte er hinzu. Ich schüttelte den Kopf.
„Weil ich sage, du bist toll, witzig, liebenswert, talentiert und wunderschön.", zwischen jedem Wort, was er sagte küsste er eine andere Stelle meines Gesichts. Meine Stirn, meine Wangen, meine Nasenspitze und schließlich meine Lippen.
„Ich liebe dich, okay? Und nur das zählt! Nicht die unwichtigen Dinge von früher."

„Danke.", sagte ich leise. „Wofür jetzt genau?", fragte Pi. „Für alles. Dafür das du einfach da bist, mich aufmunterst und immer weißt, wie ich wieder lachen kann."
Pi lächelte. „Versuch weiterzuschlafen, okay?", sagte er. Ich nickte und machte es mir wieder bequem. Er schaltete das Licht wieder aus und kuschelte sich dann von hinten an mich.

„Pi?"
„Hm?"
„Ich liebe dich auch."

My NightingaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt