Kapitel 37 "Die Entscheidung"

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Die Sonne war von Wolken verhangen und der Wind blies kalt durch die Straßen als ein blauer Skoda auf dem Besucherparkplatz der städtischen Klinik einfuhr. Die Kommissarin Alexandra Rietz saß am Steuer und parkte geschickt ein, dann zog sie den Zündschlüssel ab und lehnte sich in ihren Sitz zurück. Alex blieb in ihrem Auto sitzen und hielt das Lenkrad mit beiden Händen fest. Ihr Verstand spielte schon wieder verrückt. Sie wollte nicht aussteigen, sie wollte nirgendwo hingehen, sie wusste nicht einmal, weshalb sie schon hier war. Ihre ganze Welt hatte seit zwei Tagen aufgehört sich zu drehen und erst langsam fand Alex wieder zu ihrem normalen Leben zurück. Gerrit lag immer noch im Koma. Zwei Tage schon, doch die Ärzte hatten bei Ihrem Besuch gestern schon angekündigt, dass sie ihm heute Abend das Medikament zum aufwachen gaben, da sich sein Zustand normalisiert hatte. Seine Lebensfunktionen waren wieder stabil und er war auf die normale Station verlegt worden. Alex war heute extra früher aus dem Büro gegangen um dabei sein zu können, wenn ihr Freund aufwachte. Robert und Michael hielten derweil die Stellung, wollten aber recht bald einen Anruf um zu wissen, wie es Gerrit ging. Es ging um nicht mehr viel in ihrem Fall, Messimo war wegen eindeutiger Beweislage vorläufig eingebuchtet,  bis die Gerichtsverhandlung stattfand würden sich nur noch mehr Spuren finden lassen, die SpuSi hatte sich die Halle noch einmal vorgenommen und noch so einige Beweise gefunden. Aber all das war an Alex wie hinter einem Schleier vorübergegangen. Sie hatte das getan, wozu sie aufgefordert wurde aber mehr auch nicht, denn ihr war der eigene Antrieb verloren gegangen. Mehrmals hatte Michael versucht sie nach Hause zu schicken, doch das wollte sie auf keinen Fall. Denn sobald sie alleine war, kamen die bösen Gedanken und sie konnte nicht schlafen. Sie hatte bittere Tränen vergossen, sich stundenlang gefragt ob sie etwas anders hätte machen können, hätte sie Gerrit auf die ganze Sache ansprechen sollen? Was wäre passiert, wenn sie ihn über die SMS von Juanita ausgequetscht hätte? Hätte er sie eingeweiht? Wäre er ehrlich zu ihr gewesen hätte sie vielleicht verhindern können, dass ihm etwas zustieß? Alex‘ Gefühle fuhren Achterbahn, jede Minute, die sie alleine saß machte ihren Gemütszustand schlimmer. Trauer wechselte sich mit Wut ab und das eine Mal, dass Alex ins Sportstudio zum Kickboxen gegangen war hatte sie ihren männlichen Gegner beinahe verprügelt. Erst als sie wieder daheim war, ließ sie ihren Emotionen freien Lauf bis sie, erschöpft vom weinen, irgendwann spät nach Mitternacht einschlief. Michael und Robert hatten immer wieder ihre Hilfe angeboten und versucht sie abzulenken, doch Alex hatte jedes Mal abgeblockt. Sie musste zuerst mit sich selber ins Reine bekommen und sie wollte ihre Kollegen nicht ihren verwirrenden Gefühlen aussetzen – sie wusste ja selber nicht, wie sie jetzt weiter machen sollte.  Nun saß sie hier vor dem Krankenhaus und grübelte erneut. Was würde sie sagen, wenn Gerrit aufwachte? Sollte sie die wichtigen Themen gleich ansprechen? Sie wollte unbedingt Klarheit schaffen. Aber würde sie ihn damit verletzen? Würde es ihm dann schlechter gehen? Immerhin war er gerade dem Tod von der Schippe gesprungen. Wenn er überhaupt aufwachte. Weshalb machte sie sich überhaupt solche Sorgen, am Ende blieb Gerrit weiterhin im Koma und sie machte sich umsonst verrückt. Entschlossen die Dinge so zu nehmen wie sie kamen schwang Alex sich aus dem Auto und überquerte den Parkplatz. Gerrit lag im vierten Stock und da ihr kalt war und sie sich dringend bewegen musste, nahm die Kommissarin die Treppen. Sie nahm mehrere Stufen auf einmal und so stand sie keine Minute später vor der Tür seines Zimmers. 

Alex wappnete sich für was auch immer kommen würde und öffnete vorsichtig die Tür. Da lag Gerrit noch im Bett, die Augen geschlossen und die Krankenschwester räumte gerade die Spritze auf und zupfte die Bettlaken zu Recht. Sie bemerkte Alex und lächelte sie aufmunternd an: „Die Medikamente werden bald wirken, ich denke in einer halben Stunde ist er spätestens wach.“ Alex nickte nur stumm und trat langsam näher. Sie stellte sich den Stuhl ans Bett und setzte sich neben ihren Kollegen und Freund. Schnell schickte sie Robert eine SMS und informierte ihn, dass Gerrit bald aufwachen würde. Sie konnte sich aber noch nicht richtig freuen, dass er jetzt aufwachen würde. Sie wusste genau, dass sie jetzt ein wichtiges Gespräch mit ihm führen musste und vor diesem hatte sie Angst. Sie hatte mit Robert gesprochen, der ihr noch am Abend der Katastrophe alles erzählt hatte. Alex hatte mit Michael geredet, der scheinbar nur wie sie selbst am Rande etwas mitbekommen hatte bis es zu spät war. Hauptschuldig an der Situation waren Robert und Gerrit und mit diesen beiden musste sie die Sache klären. Allen voran mit Gerrit, ihrem Freund und Kollegen. Alex merkte, wie die Wut in ihr wieder Funken schlug. Sie rief sich alle Informationen in Erinnerung, die Robert ihr gegeben hatte. Dass Gerrit bereits in ihrem Urlaub den Fall begonnen hatte. Alex konnte zwar verstehen, dass er geschwiegen hatte um ihr die Ferien nicht zu versauen, aber irgendwie hatte sie ja gespürt, dass ihm etwas über die Leber gelaufen war. Er hätte es ihr einfach erzählen MÜSSEN! Er hatte gottverdammt genug Zeit gehabt, seit ihr Urlaub vorbei war. Sie erwartete von ihrem Freund, dass er ehrlich war, egal wie unbequem das Thema auch war. Er hatte sie Gott sei Dank nicht betrogen wie anfangs gefürchtet aber das Alles zu verschweigen war in ihren Augen auch ein Vertrauensbruch. Sie schrak aus ihren Gedanken hoch als Gerrit sich rührte. Zu allererst entfuhr ihm ein Stöhnen als die Wunde an seinem Oberkörper seine Bewegungen einschränkte. Gerrit öffnete vorsichtig die Augen, die etwas zugeklebt waren. Er sah die Verbände um seine Brust und Alex, die auf einem Stuhl an seinem Bett saß. „Hi.“, krächzte Gerrit und versuchte sich an einem Lächeln. Seine Kollegin erwiderte das Lächeln, aber es geriet ein wenig schief und Gerrit ahnte, was jetzt kam. Vorsichtig richtete er sich in eine halbwegs gerade und bequeme Position auf und wappnete sich für den Orkan, der gleich auf ihn einstürzte.

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„Gerrit, wann wolltest du mir das erzählen?“, fragte Alex ihn mit zusammengekniffenen Augen. Sie war nun stinkwütend aber hielt sich noch zurück, denn er sah wirklich noch nicht gerade gut aus. Die Enttäuschung über sein Verhalten schwang in ihrer Stimme mit und Tränen der Wut stiegen in ihren Augen auf. Gerrit schluckte schwer, er wusste, er hätte es ihr sagen sollen. Stammelnd versuchte er ihr zu erklären, warum er geschwiegen hatte: „Alex, bitte. Du musst mich verstehen. Ich hatte dir einen schönen Urlaub versprochen aber ich konnte auch Robert nicht ignorieren. In der Situation konnte ich doch auch nicht einfach sagen „Du, Schatz, sorry mach deinen Urlaub alleine, ich muss mal kurz einen Verbrecher jagen“.  Ich wollte dich nicht in Gefahr bringen, du solltest einfach nur ein wenig entspannen können und einmal nicht an den Job denken müssen. Ich habe mich oft gefragt, wie ich es dir sagen soll aber ich habe nie die richtige Zeit gefunden. Ich hatte dich zum Essen eingeladen eben weil ich dir alles erzählen wollte – und ich konnte ja auch nicht ahnen, was mir dann passieren würde…“ Gerrit versuchte verzweifelt ihr seine Beweggründe plausibel zu erklären, doch scheiterte kläglich. Er sah das an ihrem Gesichtsausdruck, der immer mehr versteinerte. Ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, das Alex irgendwann brach. „Und du glaubst also ich bin zu schwach um dich zu unterstützen?“ – „Nein, Alex so…“- „Lass mich ausreden!“, fuhr Alex ihn an. „Im Urlaub habe ich bereits gemerkt, dass du mir etwas verheimlichst. Die SMS von Juanita habe ich gelesen. Ich habe sogar befürchtet, dass du mich mit ihr betrügst. Was du ja auch hast, nur dass du mich wegen eines inoffiziellen Einsatzes angelogen hast. Wie glaubst du habe ich mich gefühlt als du heimlich weggeschlichen bist? Was mir durch den Kopf gegangen ist als du mich versetzt hast und auf einmal nicht mehr erreichbar warst? Das nächste was ich von dir gehört habe war, dass du angeschossen wurdest und jetzt im Koma liegst? Glaubst du mir hat das Spaß gemacht? Glaubst du ich war entspannt??“ Alex‘ Stimme wurde immer lauter, denn sie hatte sich in Rage geredet. „Lieber würde ich solche Gefahren mit dir an deiner Seite durchstehen als noch einmal so etwas alleine erleben. Ich würde dir alle meine Zeit und Energie opfern, wenn ich wüsste, dass du das brauchst! Du hast dich selbst in Lebensgefahr gebracht – was wäre, wenn ich durch meine Unwissenheit einen Fehler begangen hätte, der dich umgebracht hätte? Dann wäre ich Schuld an deinem Tod gewesen und hätte nicht einmal gewusst warum?! Gerrit, ich wollte mit dir nicht nur in der Arbeit ein Team sein. Wenn ich mit jemandem zusammen bin, will ich mich auf meinen Partner verlassen können – egal in welcher Hinsicht. Und da hast du versagt. Wirklich.“ Gerrit starrte sie entgeistert an. All diese Sachen, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte, all die Fehler die er begangen hatte, trafen ihn mit voller Wucht. Vor allem, dass er Alex nun vielleicht verloren hatte, versetzte ihn in Panik. „Alex ich… es tut mir Leid, bitte. Ich will es wieder gut machen. Gib mir die Chance. Ich will dich nicht verlieren.“, flüsterte er aufgewühlt und sah ihr in die Augen. In ihre verletzten, wunderschönen braunen Augen. Alex hörte wie die Geräte, die seinen Herzschlag messen sollten, lauter piepten. Trotzdem stand sie ruckartig auf und nahm seine Hand. Dann sah sie ihm tief in die Augen: „Ich weiß  nicht, Gerrit. Gib mir Zeit. Ich muss dir erst einmal verzeihen können und mit mir ins Reine kommen. Ich werde versuchen dir zu verzeihen aber das kann ich nicht hier und jetzt. Das muss ich alleine tun und ich brauche Zeit. Ich hoffe du wirst wieder gesund.“ Und bevor ihre Tränen ihre Gefühle verraten konnten, ließ sie seine Hand los und rannte aus dem Krankenzimmer. Wie gelähmt blieb Gerrit zurück, während sein Herz wie verrückt hüpfte und die Geräte um ihn herum laute Alarmtöne von sich gaben. Es wurde schwarz um ihn, dann sank er zurück ins Kissen und merkte nicht einmal mehr, dass sein Herz aussetzte und aufgeregte Schwestern mit dem Defibrillator in das Zimmer stürmten um ihn wiederzubeleben.

Bis ans Ende der Welt  Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt