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- Nur weiß ich nicht, welches der Tod und welches die Freiheit ist. Oder, ob es doch beides dasselbe ist. -

Drei Tage waren vergangen. Drei endlos lange Tage. 72 Stunden, in denen ich nur an die weißen Wände gestarrt hatte. Und heute war Samstag. Der erste Tag, an dem es vielleicht einen kleinen Lichtblick gab. Um genau zu sein war es 13:21. Warum ich das wusste? Seit genau einundzwanzig Minuten wartete ich darauf, dass Mums Kopf endlich in der Tür erschien. Eigentlich tauchte sie immer auf, wann es ihr passte oder wenn sie gerade an der Klinik vorbei kam. Jeden Tag, außer Samstags. Da gab es eine geregelte Zeit. 13 Uhr, unsere drei Stunden. Und sie war pünktlich. Wirklich, ich konnte mich an keinen Tag erinnern, an dem sie nicht auf die Minute genau an meiner Tür geklopft hatte. Entweder mit zwei Schokomuffins oder meiner lieblings Schokolade in der Hand. Und heute war sie ganze einundzwanzig Minuten zu spät. Für jeden anderen Mensch vielleicht normal. Aber nicht für Mum. Und ich wusste, dass es etwas mit unserem Gespräch zu tun hatte. Sie konnte nicht mehr. Und trotzdem hatte ich bis zu letzten Sekunde daran geglaubt, dass sie unseren Samstag trotzdem nicht aus fallen lassen würde. Hatte sie aber. Ich sah nervös auf die große Uhr in der Eingangshalle. Vor zehn Minuten hatte ich den Ort gewechselt, da ich es nicht mehr ausgehalten hatte, an die sterilen Wände zu schauen. Hier unten konnte ich mich wenigstens ablenken. Seit drei Minuten hatte sich Dr.Cartney zu mir gesetzt. Sie hatte gleich am Tag nach dem Gespräch so getan, als sei nichts passiert. Gut, was hätte sie auch anderes tun sollen. Sie war schließlich meine Ärztin und wurde immer noch dafür bezahlt, auch wenn ich das meistens vergaß. Der Zeiger sprang auf zweiundzwanzig Minuten nach eins. Da sieht man, welche Langeweile ich hatte. Ich hatte begonnen die Sekunden zu zählen. Hilfe, was war los mit mir? Dreiundzwanzig. Ich sah zu ihr auf.

,,Sie wird nicht kommen, oder?", fragte ich, obwohl es viel mehr ein hauchen war. Ich bemerkte zwar, wie Dr. Cartney den Kopf schüttelte, war in dem Moment allerdings viel zu sehr damit beschäftigt meine Gefühle zu ordnen, dass ich es gar nicht wirklich wahrnahm.

,,Versteh sie Loucy. Sie braucht Zeit damit fertig zu werden und hat Angst etwas falsches zu tun." Ich nickte, wie in Trance. Warum verletzte mich das alles so? Ich meine, in letzter Zeit und in den vergangenen Monaten hatte mich nichts wirklich getroffen. Ich hatte auch nichts an mich heran gelassen. Die letzten Wochen glich ich einfach einer leeren, gefühllosen Hülle, die nach außen stark wirkte, um niemanden zu verletzten. Doch jetzt, wo auch mein Äußeres immer mehr zerfiel, schien mein Herz wieder zu schlagen und mir schien bewusst zu werden, wie wichtig mir doch so einiges war. Wie Mum. Ich hatte nicht vor, sie zu verletzen oder sie zu belasten. Aber ich wollte sie schließlich auch nicht anlügen. Es war nun mal so. Ihr etwas vor zu spielen und so zu tun, als sei ich ein mehr oder weniger glückliches, starkes Mädchen, ging nicht mehr. Ich hatte es lange versucht und geschafft. Jetzt war ich ausgeschöpft und drohte zu zerbrechen.

,,Schon okay", entgegnete ich und legte meine Haare über eine Schulter. Sie waren dünn geworden. Immerhin waren sie gewachsen. ,,Lässt du mich eine Weile allein?", fragte nich nach kurzem Schweigen und sah sie bittend an.

,,Natürlich", sagte sie mit warmer Stimme. ,,Ist ja nicht so, dass du mein einziger Patient bist.", ein schwaches, mir Mut machendendes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie langsam aufstand und zu mir herunter sah. Auffordernd nickte ich ihr zu und sie ging zielstrebig auf den nächsten Trakt zu.

Seufzend lehnte ich mich im Sitz zurück. Es war einfach alles so schwer und kompliziert. Warum konnte mein Leben nicht einfach normal verlaufen? Ich wollte doch nur für ein paar Stunden ein normales Leben führen. Ich schloss meine Augen und versuchte alles zu verdrängen. Der strenge, brennende Geruch nach Desinfektionsmittel ging durch meine Nase und ließ mich, nach dem ich viel zu strak Luft geholt hatte, kurz auf husten. Auch wenn ich es meistens schaffte die nervigen Gespräche und das ständige Gejammer von den Anderen zu verdängen, so war es mir heute und jetzt unmöglich.

HerzenskämpferWo Geschichten leben. Entdecke jetzt