zwei

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- Jeder Anfang hat einst ein Ende -

,,Loucy?", schallte die Stimme von Dr. Cartney ein drittes Mal, wie von einer Wand, von mir ab. ,,Hörst du mir zu?"

Ich sah auf. Ihre Augen blickten mich wie immer groß und überfürsorglich an, als wäre sie meine Mutter. Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie war. Höchstens Anfang dreißig. Doch über ihre Stirn zogen sich, wie jedes mal, wenn sie mich wie heute ansah, für ihr Alter viel zu lange Sorgenfalten. Ihre Haut war im Gegensatz zu meiner stark gebräunt. Ich würde es mit der Farbe eines Milchkaffees beschreiben, auch wenn ich noch nie einen getrunken hatte. Sie musste an ihren freien Tagen viel Reisen. Wahrscheinlich hatte sie sogar südliche Abstammung, was ihre warme Hautfarbe erklären würde.
Ich glaube, sie hatte einen Mann. Ob verheiratet, oder verlobt konnte ich nicht sagen, doch in ihrem Büro hatte sie ein wunderschönes Foto auf ihrem Schreibtisch stehen. Ich kannte Dr. Cartney nun schon seit über sieben Jahren. Seit dem Tag, an dem man meine Krankheit diagnostiziert hatte. Seit dem mein Leben bergab ging. Tag für Tag und Jahr für Jahr. Und nun lag ich, wie fast jede Stunde meines einfarbigen Lebens in meinem Klinikbett und sah ihr in die matten grauen Augen. Und ich musste feststellen, dass ich rein gar nichts über sie wusste.
Bis auf drei bedeutungslose Fakten, auf die ich Tag für Tag erneut stieß.

Erstens Ihr Vorname war Marry. So wurde sie von ihren Kollegen gerufen. Ich sprach sie nich oft beim Namen an. Doch wenn ich es tat, dann war sie einfach nur Dr.Cartney für mich.

Zweitens, Ihre Lieblingsfarbe war dunkel rot. Jedenfalls trug sie bis jetzt fast jeden Tag mindestens ein Teil in dieser Farbe. Sei es ein bordeauxfarbiges Shirt unter dem weißen Kittel, den kleinen, roten Edelstein in ihrem Ring, den ich entweder für einen Verlobungs-oder Ehering hielt oder ihren dunklen, Lieblings Lippenstift. Woher ich das wusste? Wenn man seit Jahren nichts anderes zu tun hätte als die Augen offen zu halten und zu versuchen zu überleben, dann entwickelte man nach und nach ein gewisses Auge für so etwas.

Und drittens, sie liebte Weihnachtsgebäck über alles. Auf diese Tatsache war ich bis jetzt jedes mal in der Adventszeit gestoßen. Es war fast unnormal, wie sehr ein Mensch ein Nahrungsmittel so abgöttisch lieben konnte. Fast genau so schlimm war es bei Schokolade. Ich kann mich an keinen einzigen Tag erinnern, an dem ich meine vorbeigebracht bekommenen Süßgkeiten nicht mit ihr Teilen musste. Und trotzdem war sie schlank. Wahrscheinlich machte sie viel Sport. Im Gegensatz zu mir sah sie jedenfalls gesund und kräftig aus. Ich hasste es mittlerweile mich im Spiegel an zu sehen. So sehr, dass ich es tatsächlich schon seit Monaten mied. Ich wollte und konnte nicht mit ansehen, was aus mir geworden war.
Und als ich nun da lag und sie seit einer gefühlten Ewigkeit noch immer anstarrte, wurde mir von Sekunde zu Sekunde klarer, dass sie mir fast schon fremd war, obwohl sie momentan eigentlich der vertrauteste Mensch in meinem Leben war. So oder so gab es da nicht viele. Ich war schon ein Jahr nach meiner Geburt ein Scheidungskind geworden. Meine Eltern hatten sich nach nur wenigen Monaten getrennt. Mein Dad, Rick, ein Archäologe, überall auf der Welt unterwegs. Und meine Mum...Es war schwer sie zu beschreiben. Sie hatte sich verändert. Seit sieben Jahren bangte sie um das Leben ihres einzigen Kindes. Außer mir, hatte sie niemanden. Sie liebte mich, aber es war ihr anzumerken, wie sehr ihr das alles zu schaffen machte. Sie wollte für mich da sein, aber sie brauchte Abstand. Das verstand und akzeptierte ich. So wie ich all das hier akzeptieren musste.

Krebs. Unheilbar krank.
Hieß es vor sieben Jahren.
Ihr bleiben ein paar Monate.
Und siehe da ich lebte. Seit diesem Zeitpunkt hatte ich nicht einen Tag meines alten glücklichen Lebens mehr erlebt. Und tatsächlich dieses Leben hatte ich. Bis zu meiner Diagnose.

Akute lymphatische Leukämie. Kurz ALL. Oder auch Blutkrebs.
Was jetzt wie ein langweiliger Wikipedia Artikel klingt, bei dem man einfach weiterscrollt, um sich ja nicht mit dem Schicksal anderer befassen zu müssen, ist mein Leben.

HerzenskämpferWo Geschichten leben. Entdecke jetzt