sechs

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- Bitte lass es nur ein Mal Wirklichkeit werden. -

Ich wusste auch durch die geschlossenen Vorhänge, dass die Sonne schien. Und trotzdem lag ich nun schon wieder seit Stunden im Bett und starrte in die Umgebung. Mein Kopf voller Gedanken. An ihn und an Cath. Und so sehr ich es versuchte zu verdrängen, auch an meine Mum. Ich wollte ihr das nicht an tun, aber ich konnte nun mal nicht einfach meine Einstellung und meine Gefühle ändern. Es war alles so viel schwieriger, als sie es überhaupt nachempfinden konnte. Eigentlich hatte sie mich immer verstanden. Seit dem ersten Tag, an dem mein Vater uns verlassen hatte, war sie für mich da gewesen. Sie hatte alle meine Fehler akzeptiert und mir auf den richtigen Weg geholfen. Sie hatte mich zu meiner Einschulung gezwungen nicht das furchtbare orange-pinke Kleid an zu ziehen, welches ich damals so sehr vergötterte. Sonst würde jetzt nicht das kleine süße Mädchen in ihrem schneeweißen Sommerkleid auf dem Foto in die Kamera lächeln und mit ihrem Platz im Flur jeden Besucher anstrahlen. Sie hatte mich begleitet, als ich mein Diagnose bekam. Sie hatte mir erklärt, was die Ärzte mit ihren verwirrenden Worten versuchten, mir schonend beizubringen. Sie war für mich da, als ich schwach war. Sie hatte mich aufgebaut und mich unterstützt, als es mir besser ging. Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem sie nicht für mich da gewesen war. Außer heute. Es war verständlich, dass es ihr so ging. Keiner konnte jeden Tag stark sein und seiner sterbenden Tochter Mut machen. Auch sie brauchte nach sieben Jahren eine Auszeit. Egal, wie sehr es schmerzte, ich musste es akzeptieren.

Meine mittlerweile wieder versteifen Muskeln schmerzten, als ich mich nach mehren Stunden aufrichtete. Das Mittagessen lag abgekühlt auf dem Tisch. Ich wusste nicht was es gab, aber ich war sowieso noch viel zu satt vom Frühstück. Einen kurzen Moment blieb ich noch sitzen, damit sich meine Muskeln an die folgenden Bewegungen gewöhnen könnten. Dann schlüpfte ich in meine Hausschuhe und stand langsam auf. Ich fühlte mich, als hätte ich mal wieder eine Woche nur im Bett gelegen. Dabei waren es heute nur ein paar Stunden. Mit der Hand fuhr ich durch mein Haar, damit mir die nervigen Strähnen nicht mehr ins Gesicht vielen. In solchen Momenten wusste ich meine Glaze von früher zu schätzen. Nein, wirklich.
Früher war es für mich das schlimmste meine langen, braunen Haare weg zu geben. Heute war es mir egal. So vieles war mir egal. Nach sieben Jahren hatte ich mich langsam an all das gewöhnt. Auch wenn ich es noch immer nicht akzeptierte.

Langsam schlich ich zu dem weiß lackierten Kleiderschrank, wenn man das kleine bisschen Platz, welches sich hinter der schmalen Tür verbarg, überhaupt so nennen konnte. Ich öffnete die Tür und blickte auf die jämmerliche Ansammlung meiner Kleidung. Ungefähr fünf Jogginghosen, sieben Tshirts und eine Strickjacke. Das war eigentlich alles, was ich in den letzten Monaten getragen hatte. Weiter oben hatte ich paar Jeans und etwas alltagstauglichere Kleidung verstaut, die ich jedoch seit Ewigkeiten nicht mehr dort heraus genommen hatte.
Natürlich besaß ich zu Hause auch noch ein wenig Kleidung. Aber ob ich da überhaupt noch rein passte, wagte ich zu bezweifeln. Früher hatte ich Kleider über alles geliebt. Und nicht nur orange-pinke, wirklich alle jeglicher Art. Und ich glaube, mein Kleiderschrank bestand damals aus keinem anderen Kleidungsstück. Im Winter trug ich Kleider mit einem weißen Shirt drunter und einer Strumpfhose und im Sommer lief ich sowieso in nichts anderem herum. Vielleicht würde ich auch heute noch das ein oder andere schönere Kleidungsstück wieder finden. Und vielleicht nicht nur Kleider in meinem Schrank. Mein Zimmer verbarg bestimmt noch immer die ein oder andere Kleinigkeit und Erinnerung.
Ach wie sehr ich mich danach sehnte, wenigstens für eine Nacht dort sein zu können. Raus aus diesem Leben. Diesen monotonen Wänden und der Stille. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie sich meine Matratze anfühlte. Der große beige Teppich auf dem dunklen Holzboden. Wie schön es war, wenn morgens die aufgehende Sonne durch das große Fenster schien. Und wie großartig es war, wenn Mum mir ihre göttlichen selbstgemachten Pancakes zauberte. Jetzt stand ich vor einem winzigen Stapel Kleidung, der wirklich jämmerlich im Vergleich zu meinen Erinnerungen an zu Hause war. Ich hob die unterste Jogginghose an und ertastete nahezu blind den kalten Rahmen. Ich wusste nicht mehr, warum ich ihn versteckt hatte.
Vielleicht um mich vor Erinnerungen zu schützen.
Nein, es war kein Bild von zu Hause. Das alljährliche kitschige Familienfoto, nur aus mir und meiner Mum bestehend, hatte ich in meinem Kopf. Sowie die ganzen anderen Erinnerungen an zu Hause und an Mum. Sie waren so tief in mir verankert, dass ich die Erinnerungen nie vergessen würde.

HerzenskämpferWo Geschichten leben. Entdecke jetzt