Tears of Regret

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Ryans Sicht der Dinge

Mitch beschleunigte und er wurde gegen das schwarze Leder des Rücksitzes gedrückt. Sein Herz hämmerte. Krampfhaft versuchte er, seine Atmung zu verlangsamen. Scheiße, Parker, reiß dich zusammen, versuchte er, sich zur Ordnung zu rufen, doch die erzwungene Stimme der Vernunft verhallte ohne große Wirkung in seinem Kopf.

Aus den Augenwinkeln beobachtete er seinen Onkel. Noah war vielleicht ein bisschen blasser als sonst, doch er schien bemerkenswert gefasst und ruhig, dafür, dass vor wenigen Minuten sein Bruder umgebracht worden war. Sein Vater... Ryan schluckte trocken, als er es in Gedanken aussprach. Sein Vater war tot. Wild wirbelten seine Gedanken umher, ließen sich nicht fassen. Sein Vater war tot, erschossen von... von Liz, musste er sich eingestehen. Er hatte es in ihren Augen gesehen, in ihrem wunderschönen, zarten Gesicht. Sie hatte seinen Vater erschossen. Und er wusste nicht, wie er das finden sollte.

Das Tageslicht wich der flackernden Helligkeit von Neonröhren. Sie hielten mit quietschenden Reifen. Noah öffnete seine Tür und Ryan folgte ihm. Sie waren in einer Tiefgarage, in der sie mehrere Parkplätze dauerhaft gemietet hatten. Für den Fall, dass die Bullen ihre Pick-ups gesehen hatten, stellten sie hier auf Kurzzeitparkplätze und stiegen auf unauffälligere Wagen um.

„Wir treffen uns in einer halben Stunde bei Sam", verkündete Noah gebieterisch und die Männer verteilten sich ohne Widerrede auf die Wagen. Ryan rutschte hinter das Lenkrad eines silbernen Toyota Corolla, einem der meistverkauften Autos in den Staaten. Sein Onkel würde sich niemals herablassen, in einem Toyota mitzufahren und genau darauf spekulierte Ryan. Er brauchte etwas Zeit allein, in der er nicht auf seinen Gesichtsausdruck achten musste. Etwas Zeit, um seine Gedanken zu ordnen.

Sein Onkel stieg mit drei weiteren Hounds in einen großräumigen Ford, ein weiteres Auto füllte sich mit den verbliebenen Männern. Ryan wollte gerade aufatmen, da öffnete sich die Beifahrertür und John Scott ließ sich neben ihn fallen.

„Du hast doch nichts dagegen...", meinte er beiläufig und musterte Ryan genau aus leicht zusammengekniffenen Augen. Ryan ließ seine Kiefermuskeln spielen, doch er wusste, dass er Scott nicht aus dem Auto werfen konnte. So wenig es ihm gefiel, stand der in der Hierarchie immer noch über ihm und er ließ sich nichts sagen, da hatte Ryan schon die ein oder andere schmerzhafte Erfahrung mit gemacht.

Also zuckte er mit den Schultern und startete den Motor. Er parkte aus und fuhr, vielleicht etwas rasant, aus der Tiefgarage. Der Himmel hatte sich etwas aufgeklärt. Er wählte nicht den direkten Weg zu Sam, sondern fuhr eine Reihe von Umwegen, um die Verkehrskameras, von denen er wusste, zu umgehen. Er spürte, dass Scott ihn von der Seite beobachtete, doch er starrte stur geradeaus, gab vor, sich auf den Straßenverkehr konzentrieren zu müssen. In ihm tobten immer noch die unterschiedlichsten Gedanken und Gefühle, aber Scott war ein gefährlich guter Beobachter, der selbst viel zu wenig von sich preisgab. Er würde das Ordnen seiner Gedanken auf später verschieben müssen und sich vorerst damit begnügen müssen, niemanden sehen zu lassen, wie ihm zumute war.

Einige Stunden später schloss Ryan die Tür seines Zimmers hinter sich. Mit einem tiefen Seufzer ließ er alle Körperspannung entweichen und sackte auf dem Boden zusammen. Erschöpft lehnte er den Kopf gegen die Tür. Endlich war er allein. Endlich war er unbeobachtet. Er fuhr sich mit der linken Hand durch die verwuschelten Haare. Nach dem Krisengespräch bei Sam, das mehrere Stunden gedauert hatte und hauptsächlich dazu gedient hatte, dass sein Onkel seine eigene Macht festigte, hatte er endlich nach Hause gehen können. Morgen gegen elf Uhr vormittags würden sie sich im Hauptquartier treffen, alle Hounds of Hell. Bis dahin musste er wieder einen klaren Kopf haben.

Mit einer Art präziser Analyse machte er sich an seinen inneren Aufruhr. Er hatte bereits in früheren Situationen bemerkt, dass ihm sowas am besten half, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Also, es war Samstag, begann er, sah auf die Uhr, 18:24 Uhr. Seine Mutter war auf einer Geschäftsreise in Italien, soweit er sich erinnerte, Mike war bei einem Kumpel zocken, er hatte ihm heute Vormittag eine kurze Nachricht geschrieben. Sein Vater war... tot. Noah war bei sich zuhause, vermutlich jedenfalls, und nur sie selbst wusste, wo Liz war.

Ein Stich fuhr in sein Herz. Seine Königin. Bis zu diesem Moment hatte er sich verboten an sie zu denken. An ihr bleiches Gesicht knapp über der Sofalehne. Ihre vor Angst aufgerissenen Augen. Die entsicherte Glock in ihrer Hand. Die Glock mit der sie...

Nein, rief er sich hart zurecht. So funktionierte das nicht. Er musste systematisch vorgehen, sonst würde er keine Ruhe finden. Er schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Als er die Augen wieder öffnete, hatte er die Gedanken in seinem Kopf zumindest für einen Moment betäubt. Er rappelte sich auf und ging zu seinem Schreibtisch. Mit einem winzigen Schlüssel, den er an einer Kette um seinen Hals trug, öffnete er die unterste Schublade an seinem Schreibtisch. Es lag nicht besonders viel darin. Ein paar Schmuddelhefte, seine eigene Waffe, eine Walther P99, die er sich einige Wochen, nachdem er bei den Hounds aufgenommen worden war, besorgt hatte, ohne irgendjemandem davon zu erzählen, und das vielleicht Wichtigste: ein Notizbuch, in welches er jedesmal seine Gedanken schrieb, wenn er sich aus dem Gleichgewicht gebracht fühlte. Er holte es heraus, setzte sich auf den Stuhl und blätterte es durch. Der Großteil der Einträge war nach Ereignissen mit den Hounds entstanden. Von letztem November und Dezember, sowie dem Januar, gab es jedoch auch Einträge, die ihn auf andere Weise aus der Ruhe gebracht hatten. Jeder Einzelne hatte mit Liz zu tun. Sein Mund verzog sich automatisch zu einem Lächeln, das jedoch verbitterter geriet, als ursprünglich geplant. Was mochte sie nun von ihm halten?

Er dachte eine Weile angestrengt nach und kam zu dem Schluss, dass es hauptsächlich zwei Dinge gab, die ihm nahegingen und die auch noch untereinander zusammenhingen. Zum einen der Tod seines Vaters, zum anderen sein in großen Teilen zerbrochenes Verhältnis zu Liz. Er schrieb ein paar Zeilen über seinen Vater. Über Tote soll man nichts Böses sagen, meldete sich eine leise Stimme in seinem Kopf. Er biss sich, ohne besonderen Grund plötzlich wütend, auf die Unterlippe. Zur Hölle damit. Zu sagen, dass sein Verhältnis zu seinem Vater nicht das Beste gewesen war, wäre eine bodenlose Untertreibung gewesen. Die Gefühle zu seinem Vater hatten immer irgendwo zwischen Hass und Furcht gelegen.

Ihm fiel mit beeindruckender Klarheit auf, dass es ihm scheißegal war, dass Liz ihn erschossen hatte. Er liebte sie trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, mit uneingeschränkter Heftigkeit. Er schloss die Augen und rief sich ihr Gesicht in Erinnerung. Ihre lockigen, schwarzen Haare, die ihr dunkles, weiches Gesicht umrahmten, ihre kirschroten, vollen Lippen, ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Augen, die je nach Laune liebevoll blicken oder vor Wut glühen konnten. Verdammt, sein Mädchen hatte Feuer. Sein Magen zog sich zusammen und er spürte, wie sich unter seinen geschlossenen Lidern eine Träne durchzwängte und ihren Weg über seine Wange fand. Mit einem Schnauben öffnete er seine Augen, wischte sich entschlossen die Träne aus dem Gesicht und beugte sich über sein Notizbuch. Fieberhaft begann er zu schreiben. Vielleicht würde sie es irgendwann verstehen, wenn sie es ihn erklären ließ. Vielleicht konnte er sie zurückgewinnen, trotz allem, was er ihr angetan hatte...


So, weil sich das jemand gewünscht hatte, und ich es für eine gute Idee gehalten habe, ein Kapitel aus der Sicht von Ryan. Es ist schon ein ganzes Stück länger geworden als gedacht und es hätte auch noch viel länger werden können. Schreibt gern in die Kommentare, wenn ihr sowas nochmal möchtet, ich habe nämlich einige Sachen weggelassen, die das Kapitel noch länger gemacht hätten. Ich hoffe, es gefällt euch...

Dark as midnightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt