Again and again

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Gegen fünf Uhr nachmittags verließ ich das Gebäude, zusammen mit meiner Anwältin und Mai, die mich abholen gekommen war. Ich fühlte mich unsagbar müde und irgendwie wund, als sei meine Haut in den letzten Stunden nach und nach abgezogen worden und mein verletzliches Innerstes freigelegt worden. Obwohl ich mich bemüht hatte, waren mir mehrmals die Tränen über das Gesicht gelaufen und wir mussten immer wieder Pausen machen, in denen ich mich blass und verstört im Spiegel betrachtete und mich fragte, was ich da gerade tat, warum ich mich so quälte.

Zuerst noch unbeabsichtigt, dann immer bewusster, hatte ich Ryan aus allem rausgehalten. Mir war klar, dass das nicht gut war, dass ich den beiden FBI-Agenten auch von Ryan erzählen sollte, und doch...

Als wir zu dem Tag gekommen waren, an dem mich die Hounds entführt und gefoltert hatten, hatte ich nur gesagt, ein Hound, dessen Namen ich nicht gekannt habe, hätte mich gefoltert. Ansonsten jedoch schützte ich keinen anderen. Ich sagte alle Namen, die ich kannte, beschrieb Leute, gab meine Vermutungen zu den Strukturen kund und versuchte zu beschreiben, wo ich glaubte, dass ich festgehalten worden war.

Bushner fragte mehrmals, ob ich die betreffenden Personen identifizieren könne, am Ende hatten wir eine Liste mit Leuten zusammen, die ich sicher wiedererkennen würde: Noah Parker, John Scott, seine Schwester Karliene Scott (ich wusste nicht genau, wie eng ihre Beziehung zu den Hounds war, doch ich zählte sie einfach mit auf), Lionel, der Dealer, den ich damals bei dem Drogendeal gesehen hatte, Mitch und Cassel und die beiden anderen Hounds, die gekommen waren um Mary und Marc zu suchen, deren Namen ich nicht kannte, die ich aber jederzeit wiedererkennen würde, da sie mich immer wieder des Nachts in meinen Träumen heimsuchten.

Nun konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten und sank erleichtert auf den Rücksitz des schwarzen GMC SUV. Mai parkte geschickt aus und fädelte sich in den zäh fließenden Verkehr ein. Es war Feierabendzeit und die Straßen von Philly waren vollgestopft mit Leuten, die so schnell wie möglich nach Hause wollten.

Die ersten fünf Minuten starrte ich nur apathisch aus dem Fenster, froh, dass es endlich vorbei war, und versuchte, mich zu erholen. Dann holte ich mein Handy heraus und checkte die Nachrichten. Mein Bauch zog sich seltsam zusammen, als ich sah, dass Ryan mir geschrieben hatte.

Pass auf dich auf, wo auch immer du gerade bist.

Sie haben irgendetwas vor!

Kurz starrte ich die beiden Nachrichten an, mein Hirn schien sich zu weigern, zu verarbeiten, was es sah. Dann plötzlich, als es mir klar wurde, setzte mein Herz einen Schlag aus und schlug dann mit doppelter Geschwindigkeit weiter. Die Nachricht war schon zwei Stunden alt. Ryan wollte mich warnen, sie konnten nur die Hounds sein. Die Paranoia kam schlagartig und wollte mich überwältigen. Langsam rutschte ich auf meinem Sitz immer tiefer. Sie konnten nicht wissen, in welchem Auto ich saß, oder? Mit weit aufgerissenen Augen sah ich aus dem Auto, erwartete bei jedem Wagen, der vorbeifuhr, dass sich die Scheibe senkte und ich nur noch in den Lauf einer Waffe blicken würde, bevor sie mir das Hirn wegpusten würden.

Außer... In diesem Moment fiel mir ein, was wenn es gar nicht um mich ging, was wenn sie herausgefunden hatten, wo das Safe House war? Meine Brust erbebte, als mein Kopf sich verselbstständigte und mir grauenvolle Bilder lieferte, von Hounds, die das kleine graue Häuschen stürmten, von Marc, der in die Brust geschossen wurde, von Lilly, die leblos am Boden lag, von Mary die von Mitch und Cassel vergewaltigt wurde...

Ein Laut entwich mir, irgendetwas zwischen einem Keuchen und einem Gurgeln. Mai blickte in den Rückspiegel und merkte sofort, dass mit mir etwas nicht stimmte.

„Liz, was ist los?", fragte sie alarmiert, „soll ich mal kurz anhalten?"

„Nein", brachte ich raus, „nicht anhalten!" Ich konnte es ihr nicht sagen, wurde mir klar, sie durfte nicht wissen, dass ich mit Ryan Kontakt hatte, sie durfte nicht wissen, dass mich einer der Hounds gewarnt hatte.

„Es ist nur...", versuchte ich, mir eine Erklärung zu überlegen, „ich mach mir Sorgen um die anderen. Könnten Sie nicht kurz Walker anrufen?"

Sie runzelte die Stirn. „Als ich vorhin los bin, war alles in Ordnung. Wir sind in einer halben Stunde da, dann kannst du dich direkt davon überzeugen, dass es ihnen gut geht."

Ich schluckte trocken, sie verstand nicht. Aber ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte. Während ich fieberhaft überlegte, spürte ich, wie das Auto langsamer wurde. Ich blickte nach vorn und sah, wie sich vor uns die Autos stauten. Mai stöhnte auf, dann machte sie das Radio an und stellte auf einen lokalen Sender.

Wir mussten nicht lange auf die Verkehrsnachrichten warten. „Nun eine Eilmeldung, in Philadelphia auf der Walt Whitman Bridge gab es vor wenigen Minuten einen Unfall. Die Polizei und Rettungswägen sind bereits vor Ort, die Brücke ist jedoch vollständig gesperrt. Bitte umfahren sie dieses Gebiet großräumig."

Mai fluchte genervt. Wir befanden uns bereits auf der 76s Straße, die dreispurig auf die Walt Whitman Bridge zu führte. Umkehren war in unserer Position keine Option mehr. Mich beschlich ein mulmiges Gefühl. Konnten sie...?

Mai drehte sich zu mir um. „Tut mir leid, aber wird wahrscheinlich doch länger als eine halbe Stunde dauern. Wenn du unbedingt willst, kann ich Walker kurz anrufen..." Ich nickte nachdrücklich.

Mai sah mich zwar nochmal an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank, holte jedoch ihr Handy raus, tippte ein paarmal und hielt es sich ans Ohr. Unwillkürlich beugte ich mich nach vorn. Fast bis zum Zerreißen gespannt wartete ich darauf, dass das gleichmäßige Tuten von einem Knacken unterbrochen wurde.

„Mai?", hörte ich plötzlich gedämpft Walkers Stimme, „was ist los, warum rufst du an?"

„Ich wollte nur hören, ob bei euch alles in Ordnung ist?", meinte Mai beiläufig.

„Ja, natürlich, sonst hätte ich mich gemeldet..."

Langsam, ganz langsam wich die Anspannung aus meinem Körper, ich lehnte mich wieder zurück, meine zu Fäusten geballten Hände ließen langsam locker und offenbarten harte Druckstellen, wo ich mir die Fingernägel in die weiche Haut der Handballen gepresst hatte.

Mai und Walker tauschten noch ein paar Worte, dann legte Mai auf und legte das Handy beiseite. Sie warf mir über die Schulter einen nachsichtigen Blick zu. „Bist du jetzt beruhigt?", fragte sie und ich nickte. War ich zwar immer noch nicht so wirklich, aber immerhin schien mit meinen Geschwistern alles in Ordnung zu sein.

Ich sah wieder aus dem Fenster, hoch zu den Gebäuden, die die Straße rechts und links einrahmten. Was hatte Ryan bloß gemeint mit seiner kryptischen Nachricht? Warum hatte er nicht mehr Details geschrieben? Oder hatte er selbst gar keine Details gewusst?

Gerade, als ich mich etwas entspannen wollte, hörte ich plötzlich, noch in einiger Entfernung näherkommende rufende Stimmen. Verwirrt wollte ich nach hinten blicken, doch durch die schwarz getönte hintere Scheibe konnte ich nicht viel sehen. Mai hingegen blickte in den Seitenspiegel und ich hörte sie noch „Was zur Hölle...?", sagen, dann ging alles viel zu schnell.

Ein Mann stand auf einmal vor meiner Tür, noch jung, glatt rasierter Schädel, dunkle Haut, weißes Tanktop. Ich zuckte erschrocken zurück, doch bevor ich irgendetwas tun konnte, hatte er die Tür aufgerissen, packte mich am Arm, zog mich aus dem Auto und rammte mir den Lauf einer Waffe in den Rücken.

„Lauf oder stirb!", raunte er mir zu, dann rannte er los und zerrte mich hinter sich her.

Dark as midnightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt