Left Alone

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Am nächsten Morgen war Marc verschwunden. Es fiel nicht sofort auf. Marc und ich waren zusammen in meinem Bett eingeschlafen, so wie wir uns früher als Kinder ein Bett geteilt hatten. Als ich allein aufwachte, dachte ich mir noch nichts dabei. Ich ging davon aus, dass er bereits wach geworden und aufgestanden war. Ich duschte ausgiebig und heiß. Beim Frühstück machen war der erste Moment, dass ich mich tatsächlich wunderte, wo Marc wohl war. Aber ich dachte mir, er würde schon zum Frühstück auftauchen.

Als ich jedoch mit meinen anderen Geschwistern zusammen am Frühstückstisch saß und fragte, wo denn Marc sei, hatte ihn niemand gesehen. Ich bat Lily, nach ihm zu suchen und zwei Minuten später kam sie mit gerötetem Kopf zurück in die Küche.

„Hab ihn nicht gefunden", keuchte sie, setzte sich wieder an den Tisch und biss von ihrem Pfannkuchen ab. Ich runzelte die Stirn und stand auf. Ich sah im Wohnzimmer, in der Besenkammer, in allen Bädern und Zimmern nach. Ich fand ihn nicht.

Zuerst leise flüsternd, dann immer lauter, tönte eine Stimme in meinem Kopf. Er ist wieder weg! Er hat dich wieder verlassen! Ich schlug die Stimme nieder, erst mit Leichtigkeit, dann immer verzweifelter. Er war nicht weg, er durfte nicht weg sein!

Schließlich fragte ich Mai, mit mühsam kontrollierter Stimme, ob sie wisse, wo Marc sei, ob sie ihn vielleicht sogar irgendwohin geschickt hätte. Sie hatte nicht.

Ich spürte, wie meine Atmung schneller wurde. Ich war bereits auf dem Weg zum Bad, als schwarze Flecken vor meinem Gesicht zu tanzen begannen. Gerade so schaffte ich es noch zur Toilette. Im nächsten Moment kotzte ich mir die Seele aus dem Leib. Ich hatte nicht viel im Magen gehabt. Es schmeckte trotzdem bestialisch.

Als ich fertig war, betätigte ich die Spülung und spülte mir den Mund am Waschbecken aus. Wie betäubt starrte ich in den Spiegel. Wieso tat er mir das an? Hatte er überhaupt an mich gedacht? Wahrscheinlich sowieso nicht.

Ich überlegte, wie lange ich noch im Badezimmer bleiben konnte. Ich wollte nicht wieder in die Küche zurückgehen und meinen Geschwistern sagen, dass Marc schon wieder abgehauen war. Ich konnte es nicht. Trotzdem musste ich es. Auf einen Schlag wütend ballte ich die Fäuste. Warum blieb es immer an mir hängen? Natürlich wusste ich, dass ich nicht für immer im Badezimmer bleiben konnte. Irgendwann musste ich wieder raus und mich meinen Geschwister stellen. Aber ich wollte den Moment trotzdem so lange wie möglich herauszögern.

Ich überlegte, warum Marc wohl dieses Mal verschwunden war. Hatte es etwas mit dem Verhör durch das FBI zu tun? Vielleicht. Er war sehr durch den Wind gewesen am vorigen Abend. Er hatte nicht erzählt, was passiert war, weswegen er sich so aufgeregt hatte, und ich hatte nicht in ihn dringen wollen.

Er hatte lange in meiner Umarmung geweint, was uns in etwa gleich stark geschockt hatte. Ich hatte ihn nicht mehr weinen sehen, seit er sich mit 12 Jahren mal mit den falschen Jungs angelegt hatte und verprügelt worden war.

Irgendwann waren wir beide ruhiger geworden, hatten tiefer geatmet. Schließlich hatten wir uns stark genug gefühlt, um wieder aufzustehen. Wir hatten zusammen Zähne geputzt und ohne uns absprechen zu müssen, waren wir beide in mein Bett geklettert. Wir hatten nicht sofort geschlafen. Wir hatten noch eine Weile nebeneinander wach gelegen und in Erinnerungen geschwelgt.

„Weißt du noch, wie Mama einmal so gereizt war, dass sie uns eine Woche Fernsehverbot gegeben hat?", fragte er und schmunzelte. Ich musste auch schmunzeln.

„Und das nur, weil wir uns gestritten haben..."

„Ja, genau!" In Marc Stimme schwang nur noch ein Bruchteil der Empörung mit, die wir damals gefühlt hatten. Was hatten wir uns ungerecht behandelt gefühlt.

„Sie hat auch immer gesagt, Geschwister müssen zusammenhalten", führte ich die Erinnerungen fort. Das zumindest hatte sie mit der einen Woche Fernsehverbot geschafft, wir hatten uns wieder vertragen, weil wir beide eine Art gemeinsamen Feind gehabt hatten.

Diesmal fiel Marc Grinsen sparsamer aus. Vielleicht vermutete er einen Vorwurf hinter meinem Satz, wo keiner war. Aber er spann das Gespräch weiter.

„Oder weißt du noch, wie sie einmal gesagt hat, wenn wir den Tag über ganz brav sind, kriegen wir ein Eis? Wir haben alles gemacht, was sie gesagt hat..." Ich kicherte beim Gedanken daran. Sie hatte uns sogar dazu gebracht, dass wir die gesamte Küche aufgeräumt und geputzt hatten. Wir hatten sehr viel Lust auf Eis gehabt.

„Oder einmal, als wir im Sommer über 100°F hatten und sie gemeint hat, wir dürfen alle in Unterwäsche rumlaufen?" Damals waren Marc und ich noch recht klein gewesen, vielleicht 8 Jahre alt und wir waren beide nur in Unterhosen durch die Wohnung gehüpft und hatten gespielt, dass wir Schiffbrüchige wären und auf einer Insel gestrandet seien.

Marc lächelte wehmütig. Auch bei mir mischte sich Trauer unter die Nostalgie.

„Ich vermisse sie", meinte ich mit leisen Tränen in der Stimme. Marc legte seinen Arm um meine Schultern und ich kuschelte mich an ihn.

„Ich weiß", antwortete er schließlich, „ich vermisse sie auch." Ich spürte, wie er den Kopf wegdrehte. „Ich habe sie jeden Tag vermisst, als ich nicht bei euch war. So wie ich jeden von euch vermisst habe..." Ich seufzte tief.

„Warum warst du nicht bei ihrer Beerdigung?", fragte ich eine Frage, die mir schon seit Ewigkeiten auf der Zunge brannte.

„Ich war da", antwortete Marc überraschenderweise. Ich richtete mich leicht auf, sodass ich ihn anschauen konnte.

„Was?"

„Ich stand nicht bei der Trauergesellschaft. Nicht bei euch. Ich stand ein paar Gräber weiter, habe so getan, als gehöre ich nicht dazu. Ich glaube nicht, dass ihr mich gesehen habt." Er klang traurig. Ich dachte an den Tag zurück. Es hatte geregnet, dass wusste ich noch ganz genau. Alles war nass gewesen, unsere ganze zusammengestückelte Beerdigungskleidung. Ich konnte mich nicht daran erinnern, an einem Grab in der Nähe jemanden stehen gesehen zu haben, aber ich war auch nicht besonders aufmerksam gewesen.

„Warum bist du nicht zu uns gekommen? Wir hätten dich gebrauchen können. Besonders als..." Ich brach ab. Besonders als Vater vor dem Grab zusammengeklappt ist, vervollständigte ich in meinem Kopf.

„Ich weiß", murmelte Marc und ich konnte das Schuldbewusstsein durchklingen hören. „Ich hätte euch mit Vater helfen sollen, aber..." Eine Weile schwieg er. „Ich habe mich geschämt", sagte er schließlich, „ich dachte, ihr wollt mich bestimmt nicht sehen."

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als es an der Tür klopfte.

„Ja?", rief ich. Es musste ja doch irgendwann sein. Mary streckte den Kopf durch die Tür. Als sie mich sah, wie ich auf dem Boden hockte, den Rücken gegen die Waschmaschine gelehnt, kam sich ganz herein. In ihren Augen spiegelte sich Besorgnis.

„Er ist weg, nicht wahr?", fragte sie niedergeschlagen.

Ich nickte. Einen Moment sah sie so aus, als würde sie anfangen zu weinen, dann riss sie sich zusammen.

„Weißt du warum?", fragte sie weiter. Ich schüttelte traurig den Kopf.

„Ich weiß gar nichts mehr."

Dark as midnightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt