Runaway

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Als mein Handywecker um 2:30 am gedämpft unter meinem Kissen klingelte, war ich auf der Stelle hellwach. Schnell schob ich meine Hand unter das Kissen und stellte ihn ab. Ich wollte keine schlafenden Drachen wecken. Ich schwang meine Beine aus dem Bett und setzte mich auf. Ein Kribbeln wanderte durch meinen Körper. Ich war aufgeregt.

Wenn wir entdeckt werden würden, würden wahrscheinlich ordentlich Ärger kriegen. Und wenn wir es schafften und ich mich aus dem Haus schleichen konnte, war ich alleine und ohne einen Rückzugsort in Philly unterwegs, in einer Stadt in der so viele meinen Tod oder zumindest mein Leid wollten. Ein leiser Seufzer entwich mir, als mir das Ausmaß der Tatsachen wieder bewusst wurde. So viele Feide und nur so wenige Freunde oder Verbündete. Trotzdem wusste ich, dass ich hier raus musste. Ich musste Marc suchen und ich konnte einfach nicht mehr hier eingesperrt sein und darauf warten, dass Nachrichten zu mir durchdrangen.

Zügig, aber immer darauf bedacht, nicht zu laut zu sein, zog ich mich an. Einen kleinen Rucksack hatte ich schon am Abend zuvor direkt vor dem Schlafengehen gepackt. Er enthielt nicht viel, nur ein paar Wechselklamotten, eine Flasche Wasser, die ich aus der Küche hatte mitgehen lassen, eine Zahnbürste und Zahnpasta, meinen Geldbeutel und mein Klappmesser, das Marc aus der Wohnung geholt hatte, bevor wir ins Safe House verfrachtet worden waren. Meine Glock lag leider in der Aservatenkammer des FBI, aber das Messer war immer noch besser als nichts.

Im Dunkeln kämmte ich mir die Haare und drehte sie dann in einen festen Dutt an meinem Hinterkopf. Das Licht lies ich lieber aus, ich wusste es nicht genau, aber ich hatte den starken Verdacht, dass auch außerhalb des Safe House Sicherheitskräfte positioniert waren und Angst, dass sie das Licht sehen könnten.

Gerade als ich das Zimmer verlassen wollte, wurde die Türklinke heruntergedrückt und die Tür bedächtig geöffnet. Mary steckte ihren Kopf ins Zimmer.

„Bist du bereit?", wisperte sie. Ich nickte und im nächsten Moment schlichen wir auf Zehenspitzen den Flur entlang. Meine neuen Turnschuhe hielt ich an den Schnüren in der Hand, ich würde sie erst im Garten anziehen.

Wachsam blickten Mary und ich die Treppe herunter. Wir warteten einige Sekunden, dann nickte ich ihr zu und Stufe für Stufe tasteten wir uns herunter. Wir traten möglichst nah an der Wand auf, da wir am Nachmittag bemerkt hatten, dass die Stufen dort fast keine Geräusche machten.

Noch zwei Stufen, noch eine, dann kamen wir, bisher noch unentdeckt, im Erdgeschoss an und wandten uns Richtung Wohnzimmer. Unwohl sah ich mich immer wieder um. Ich wusste nicht, was sie mit uns machen würden, wenn sie uns entdeckten und das war fast noch beängstigender als wenn ich bereits gewusst hätte, welche Strafe uns erwarten würde. Sie durften uns einfach nicht entdecken!

Knapp bevor wir im Wohnzimmer angelangten, hörte ich plötzlich Geräusche von hinten. Erschrocken warf ich einen Blick über die Schulter. Das Licht vor dem Haus war angegangen und durch die matte Scheibe in der Haustür konnte ich mindestens einen Schemen vor den Tür ausmachen. Meine Augen weiteten sich. Instinktiv packte ich Mary am Handgelenk und zog sie die ersten Stufen der Treppe in den Keller hinunter.

Keine Sekunde zu spät. Im nächsten Moment konnten wir hören, wie sich die Haustür öffnete. Schwere Stiefel schritten durch den Flur in unsere Richtung. Wir kauerten mit bebenden Herzen auf den Stufen, bemühten uns, so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Die Schritte kamen näher, immer näher. Marys Hand umschloss meine und drückte sie fest. Ich hielt den Atem an.

Im nächsten Moment drehten die Schritte ab und wir hörten eine Tür auf- und wieder zugehen. Das Badezimmer! Der Typ wollte nur aufs Klo gehen. Unsagbar erleichtert schloss ich die Augen und atmete aus. Auch Marys Druck um meine Hand ließ etwas nach. Kurz wägte ich ab, was wohl gefährlicher wäre, weiterhin hier auf der Treppe zu kauern mit der Gefahr, dass irgendjemand aus dem Keller nach oben kam oder schon ins Wohnzimmer zu schleichen mit dem Risiko, das der Typ gerade dann wieder aus dem Badezimmer kam. Ich überlegte nur kurz, dann bedeutete ich Mary, auf den Stufen hocken zu bleiben.

Wir mussten zum Glück nicht lange warten. Wenige Zeit später öffnete sich die Badezimmertür erneut und die Schritten entfernten sich von uns. Nachdem sich die Haustür wieder geschlossen hatte, zählte ich langsam bis 10, dann nickte ich Mary zu und langsam und vorsichtig tapsten wir die Stufen wieder hoch und das letzte Stück bis ins Wohnzimmer. Das Wohnzimmer lag genauso dunkel und verlassen da, wie die anderen Zimmer. Schnell huschte ich zur Terassentür, Mary lehnte die Tür zum Flur an, sodass niemand direkt ins Wohnzimmer sehen konnte.

Aufgeregt blickte ich in den dunklen Garten. Nur noch eine Glasscheibe trennte mich von der kalten, frischen Nachtluft. Fast verwundert bemerkte ich, dass ich es kaum noch erwarten konnte, endlich draußen zu sein. Mit fliegenden Fingern zog ich meine Turnschuhe über. Momentan waren sie noch schwarz und neu. Aber so würden sie nach dieser Nacht bestimmt nicht mehr aussehen. Die Erde war jetzt, im Frühling, noch ziemlich weich und feucht. Aber das war nur ein kleiner Preis. Ich überprüfte nochmal, ob der Rucksack gut saß für den Fall, dass ich rennen musste. Dann erst sah ich Mary an. Sie hatte die Augenbrauen besorgt zusammengezogen. Ich merkte, dass sie gern etwas gesagt hätte, aber Angst hatte, zu laut zu sein. Mir ging es ähnlich, ich hätte ihr gern nochmal versichert, dass schon alles gut gehen würde, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauche, doch auch mir war das Risiko zu hoch, dass uns jemand hören könnte. Also zog ich sie nur in eine feste Umarmung, die sie nicht minder kräftig erwiderte. Ein weiteres Mal vergrub sie ihren Kopf an meiner Schulter, wofür sie inzwischen eigentlich schon zu groß war. Ich atmete tief durch, atmete ihren Duft ein, nach Pfirsich und Frühling, und versuchte den Gedanken zu verjagen, dass zumindest die klitzekleine Möglichkeit bestand, dass dies das letzte Mal war, dass ich sie umarmte.

Schließlich lockerte ich meinen Griff, schob sie sanft, aber bestimmt von mir fort. Ich musste los. Mary lächelte verkrampft, ich nickte ihr ein letztes Mal zu, dann schob ich die Terassentür auf. Augenblicklich erklang das laute Geheul einer Sirene.

Dark as midnightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt