Als Carlotta sich schließlich, in eine perlweiße Tunika gehüllt, Dekolleté und das zum Kranz geflochtene Haar mit winzigen rosanen Tellmuscheln geschmückt, durch den Saal bewegte, war es als sähe sie den Prunk ihres Vaters zum ersten Mal: Der Saal aus weißem Marmor war so gebaut, dass man meinen könnte, er sei endlos in die Höhe gebaut. Ganz oben hingen große, eindrucksvolle Kronleuchter aus echtem Kristall, die so sehr funkelten, dass Carlotta ihre Augen abwenden musste. Die langen Festtafeln waren mit dem besten Silberbesteck gedeckt und die Meerdienerinnen schwebten mit üppig beladenen Silberplatten kostbarsten Essens von Gast zu Gast.
Allein die Gäste waren ein Spektakel für sich und versuchten sich, um Macht und Reichtum ihres jeweiligen Königreiches zum Ausdruck zu bringen, an Schönheit und Eleganz gegenseitig zu übertrumpfen. Die meisten waren bereits in rege Unterhaltungen vertieft und so erklang der Saal immer wieder in glockenhellem Lachen, betörend melodiösen Stimmen, gelegentlich unterlegt von den sonoren, tief klingenden, Stimmfarben der Männer. Einige schwebten sogar schon über die Tanzfläche.
Carlotta wurde allein vom Zusehen fast schwindelig. Sie hatte schon immer lieber für sich als vor so vielen Menschen und dann auch noch nach vorgegebenen Schritten getanzt, weshalb sie ihren Blick lieber schnell wieder abwandte, bevor sie noch von einem der übereifrigen Meerprinzen aufgefordert werden konnte. Stattdessen bewegte sie sich den langen Mittelgang entlang auf den Thron ihres Vaters zu, der von den buntesten, schönsten und bezauberndsten Muscheln gesäumt war, die man sich nur träumen konnte. Sie lächelte ihren Vater schüchtern an und legte, als sie bei ihm angekommen war, ihre Rechte in die ausgestreckte Hand des Meerkönigs, knickste tief und anmutig und wartete mit gesenktem Kopf darauf, dass er ihr bedeutete, sich wieder erheben zu können.
Es war nicht so, dass sie ihren Vater nicht liebte oder respektierte, sondern vielmehr so, dass sie oft von Neuem von seiner großen eindrucksvollen Gestalt und Erhabenheit eingeschüchtert wurde. Ihr Vater machte niemals viele Worte. Wenn er aber einmal etwas sagte, so war es umso bedeutsamer. Ein Kompliment von ihm glich daher einem kostbaren kleinen Schatz, den es zu hüten galt.
Zärtlich blickte er nun auf sie nieder und drückte dann einen Kuss auf ihre Hand, die er noch immer in seiner hielt: ,,Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe."
,,Danke", erwiderte sie ehrlich.
,,Bist du bereit?"
Sie nickte schlicht. Etwas anderes hätte er vermutlich ohnehin nicht akzeptiert. In diesem Fall aber war es ihr voller Ernst. Sie konnte den Abend dieses Tages kaum erwarten.
Daraufhin richtete er sich auf und zog Carlotta an seine rechte Seite. Was darauf wie immer geschah, war etwas, das Carlotta wohl nie begreifen würde: Allein dadurch, dass sich ihr Vater, der Meerkönig, erhoben hatte, verstummte die Menge sogleich und wandte ihre gesamte Aufmerksamkeit allein ihm zu. Ihr Vater wartete noch einen erhabenen kleinen Moment und sprach dann die üblichen Worte der Begrüßung, bei der er namentlich die geladenen Könighäuser aufzählte und alle, zu Ehren des Geburtstags seiner Jüngsten, herzlich willkommen hieß. ,,Nun lasst uns gemeinsam Feiern", schloss er schließlich. Und mit erhobener Stimme und erhobenem Kelch fügte er hinzu: ,,Auf meine jüngste Tochter!"
*
Es dauerte nicht allzu lange, da wusste Carlotta wieder, weshalb sie solchen Feiern eigentlich nichts abgewinnen konnte - schon gar nicht, wenn sie dabei im Zentrum der Aufmerksamkeit stand: Die ganze Zeit über war sie genötigt zu lächeln und möglichst intelligent mit allen möglichen bekannten und unbekannten Persönlichkeiten, die sich für äußerst wichtig hielten, zu plaudern. Das hieß, im Grunde musste sie diese nur plaudern lassen. Sie selbst hatte höchstens die Aufgabe an den passenden Stellen etwas einzuwerfen, zustimmend zu nicken und hin und wieder ein fröhliches Lachen aufperlen zu lassen. Ihre Mundwinkel fühlten sich inzwischen eindeutig verkrampft an.
Zum Glück sah sie in diesem Moment ihre liebste Schwester Virginie auf sie zukommen. Sehr geschickt verschaffte sie Carlotta eine kurze Verschnaufpause, indem sie behauptete die kleine Meerjungfrau einen Augenblick lang für eine dringende Angelegenheit entbehren zu müssen. Sie sei sofort wieder für sie da.
,,Danke", hauchte Carlotta erschöpft und lehnte sich etwas abseits vom Trubel müde an die Schulter ihrer Schwester.
,,Du siehst absolut bezaubernd aus, meine Süße", versprach ihr Virginie liebevoll. ,,Wie hast du es nur geschafft Großmutters Perlenschmuck abzuwehren?", fragte sie neckisch.
Carlotta musste lachen. ,,Das war gar nicht so einfach." Sie lächelte schelmisch. ,,Aber weißt du, ich habe irgendwie so lange gebraucht, um mich anzukleiden und aufzustehen, da war einfach keine Zeit mehr."
Virginie lachte und tat als sei sie empört: ,,Carlotta Kind, der gute Schmuck. Schon Generationen vor dir haben ihn an ihrem 15. Geburtstag getragen. Es ist eine Ehre ihn zu tragen."
,,Schon gut, Omi."
Beide Schwestern prusteten undamenhaft los und versuchten ihr Lachen hinter ihren fragil wirkenden Händen zu verbergen, was nicht ganz einfach war, da sogar ihre zierlichen Körper vor Lachen bebten. Langsam kamen sie anschließend wieder zur Ruhe und Carlottas verkrampftes Lächeln von vorhin war einem breiten, ehrlichen Grinsen gewichen, das sich auch auf Virginies Zügen spiegelte.
Virginie beugte sich kurzerhand zu ihrer Schwester hinunter und umarmte sie fest. Ihr Atem kitzelte Carlottas Ohr, als sie ihr heimlich noch etwas zuflüsterte: ,,Bald hast du es geschafft. Vergiss nicht, weshalb du das hier mitmachst. In ein paar Stunden bist du frei!"
Mit diesen Worten im Ohr fiel es Carlotta tatsächlich leichter den gesellschaftlichen Erwartungen ihres großen Tages gerecht zu werden. ,,Ja, bald hab ich es geschafft", dachte sie mit einem erwartungsfrohen Lächeln auf den Lippen, das den ganzen Abend über nicht mehr weichen sollte.
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Das Mädchen mit den sprechenden Augen
FantasyCarlotta, die kleine Meerjungfrau, ist eine Träumerin. Nichts beschäftigt sie mehr als das Leben der Menschen, die Natur, die unendliche Weite. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als die Oberwelt zu entdecken. Bald schon ist dieser Wunsch in ihr so...