9. Kapitel - Carlotta

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Am nächsten Morgen war Carlotta schon früh wach, oder besser gesagt immer noch

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Am nächsten Morgen war Carlotta schon früh wach, oder besser gesagt immer noch. Und so streifte sie ihre Müdigkeit ab, machte sich rasch fertig und begab sich auf die Suche nach ihrer Großmutter. Sie musste einfach wissen, was der Traum zu bedeuten hatte.

,,Omi, da bist du ja!", machte sich Carlotta bemerkbar, als sie ihre Großmutter entdeckte, die bereits geschäftig mit den Vorbereitungen für das Fest später zu tun hatte.

,,Carlotta Kind, was machst du denn hier?", erkundigte sich ihre Großmutter vorsichtig, klang jedoch nicht überrascht. ,,Und wieso bist du noch nicht umgezogen?", setzte sie nach einem Blick auf Carlotta hinzu.

,,Omi, ich - Hast du vielleicht kurz Zeit?"

,,Natürlich, mein Kind." Ihre Großmutter seufzte. ,,Sofort, ja? Wenn ich mit dem Palastkoch die letzten Einzelheiten durchgesprochen habe, sowie die Dekoration überprüft habe, bin ich bei dir. Versuch doch solange etwas zu essen. Du wirst es brauchen." Nach einem auffordernden, aber sanften, Lächeln an Carlotta, wandte sie sich erneut den Vorbereitungen zu, sodass Carlotta etwas verloren dastand. Da Carlotta letztendlich fast nichts anderes übrig blieb, als der Aufforderung ihrer Großmutter zu folgen, machte sie sich nach einem kurzen Abstecher in die Küche - im Vertrauen darauf, dass ihre Großmutter sie schon finden würde - auf den Weg in den Schlossgarten. Beim Anblick der von Muscheln gesäumten verschlungenen Wege und der unglaublichen Farbpracht der Korallen musste sie unwillkürlich lächeln. Früher hatte sie hier oft mit Virginie und ihren anderen Schwestern Verstecken gespielt. Manchmal, an besonderen Tagen, hatte sogar ihr Vater mitgespielt. Oft hatte sie stundenlang in ihrem Versteck gesessen und war ihren Tagträumereien von der Oberwelt nachgehangen, während die anderen nach ihr suchten. Kaum zu glauben, wie lange das schon her war!

,,Erinnerst du dich noch?", vernahm sie auf einmal die Stimme ihrer Großmutter neben sich und ward dadurch aus ihren Erinnerungen gerissen. ,,Du hast dich immer so gut zwischen den Korallen versteckt, dass man fast hätte vergessen können, dass du überhaupt mitspielst."

,,Nur fast?", fragte Carlotta und lachte.

,,Natürlich", antwortete ihre Großmutter nachdrücklich, konnte sich ein Schmunzeln aber dennoch nicht verkneifen. An einem Abend nämlich hatte sich Carlotta derart gut versteckt, dass die anderen sie einfach nicht mehr finden konnten und ihre Schwestern bald die Lust am Suchen verloren hatten. Als später zum Abendessen geblasen wurde, hatten sie bereits vergessen, dass sie je nach ihr gesucht hatten. Erst als ihr Vater nach ihr gefragt hatte, war es ihnen wieder eingefallen. So war es anstelle des Abendessens zu einer ausgiebigen Suche gekommen, bei der auch die Gärtner und Dienerinnen helfen mussten, während Carlotta in ihrem Versteck friedlich schlummernd geschlafen hatte.

,,Ich hatte heute Nacht eine Art Traum", begann Carlotta endlich zu berichten. Möglichst detailliert schilderte Carlotta ihrer Großmutter alles, woran sie sich erinnerte, ohne etwas zu beschönigen. Auch wenn es ihr sichtlich schwerfiel.

Und ihre Großmutter hörte stumm zu. Ohne eine einzige Unterbrechung. Ohne eine einzige für Carlotta ersichtliche Gefühlsregung. Am Ende ihrer Erzählung seufzte sie tief und blickte Carlotta ernst an: ,,Dass das kein wirklicher Traum war, ist dir vermutlich schon bewusst, oder?", fragte sie, erwartete aber offenbar keine Antwort, da sie sogleich weitersprach: ,,Denn die Frau, die zu dir gesprochen hat, ist die mächtige Meerhexe Moreen. Sie hasst die Menschen und liebt es andere ins Unglück zu stürzen. Und dennoch ist sie die einzige Brücke zwischen uns und den Zweibeinern." Sie hielt kurz inne, als wäre sie in Gedanken woanders, fasste sich jedoch rasch wieder und nahm den Faden wieder auf: ,,Weißt du, Carlotta, dass ich Moreen kenne, hat einen Grund. Niemand begegnet ihr einfach so - und das ist auch gut so. Als ich etwa so alt war wie du, gab es für mich, genau wie für dich jetzt, nichts Schöneres als die Welt der Menschen dort oben zu erkunden. Ich war jung, leichtsinnig und leidenschaftlich genug mich zu verlieben und das Herz eines jungen Mannes zu gewinnen. Wir hätten glücklich sein können, wenn mein Vater nicht davon erfahren hätte. Was genau er und Moreen angerichtet haben, weiß ich bis heute nicht."

Carlotta wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte. Niemals hätte sie das erwartet. Und doch machte es irgendwie Sinn. Es erklärte, warum ihre Großmutter ihr und ihren Schwestern mit solcher Liebe von oben erzählen konnte. Und warum gleichzeitig bei jeder Erinnerung Trauer mitschwang. Carlotta sah ihre Großmutter fassungslos an: ,,Wie kann etwas so schön und furchtbar zugleich sein?"

,,Ich weiß es nicht, mein Kind, ich weiß es nicht." In den Augen ihrer Großmutter schimmerten ungeweinte Tränen.

,,Deshalb ist es mir umso wichtiger, dass du eine Entscheidung für dich triffst. Verstehst du das?"

,,Ja", flüsterte Carlotta. Und der kommende Abschied schnürte ihr die Kehle zu. Denn sie wusste jetzt, wie sie sich entscheiden würde. Wie sie sich entscheiden musste. Sie würde gehen. Nach oben. Für immer.

,,Ich hab dich so lieb, Omi!" Sie legte ihre Arme noch einmal fester um die Ältere, bevor sie sich sanft von ihr löste.

,,Ich dich doch auch, meine kleine Carlotta." Der Ausdruck in den Augen ihrer Großmutter war so unendlich liebevoll, dass Carlotta warm wurde.

,,Sag meinen Schwestern und Vater, dass ich sie lieb hab, ja? Und Virginie, dass es mir leidtut."

,,Natürlich. Auch wenn ich kaum glaube, dass sie es verstehen werden." Ihre Großmutter lächelte traurig.

Ein letztes Mal nahmen sich die beiden in den Arm. Ein letztes Mal sahen sie sich einander mit ihren ozeanblauen Augen an, in denen sich die Endgültigkeit des Augenblicks widerspiegelte. Und ein letztes Mal flüsterten sie einander Worte des Abschiedes zu, bis Carlotta sich endlich abwandte und zu den entfernten Klängen der Eröffnungszeremonie ihres 16. Geburtstags davonschwamm. Sehnsucht und Heimweh vermischten sich in ihrem Herzen mit etwas, das sie noch nicht Recht deuten konnte. War es Vorfreude? Oder Angst? Eines jedoch wusste Carlotta bestimmt: Egal, was jetzt noch geschehen würde. Es konnte und würde nichts mehr an ihrer Entscheidung ändern.

Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, kleine Carlotta!

Das Mädchen mit den sprechenden AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt