6. Kapitel - Carlotta

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Wie angewurzelt stand Carlotta da und starrte das Mädchen an

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Wie angewurzelt stand Carlotta da und starrte das Mädchen an. Alles in ihr schrie danach sofort im Meer abzutauchen und darin auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Ihre Großmutter hatte sie schließlich mehr als ausdrücklich gewarnt. Und doch blieb sie, wo sie war. Angespannt musterte sie das kleine Mädchen vor sich. Und eben im selben Moment, in dem Carlotta dazu ansetzten wollte das Mädchen zu fragen, ob es alleine hier sei, wisperte es mit leiser Stimme zögerlich und dennoch neugierig: ,,Was bist du?"

Carlotta musste wider Willen lächeln und kam sich plötzlich albern vor: Was sollte ihr das kleine Mädchen denn schon groß antun? Sie süß anlächeln? ,,Ich heiße Carlotta", erwiderte sie deshalb. ,,Und ich bin eine Meerjungfrau."

Da wurden die dunklen Kinderaugen des Mädchens, wenn möglich, noch größer. ,,Eine echte Meerjungfrau?", versicherte sie sich ehrfürchtig.

,,Genau." Carlotta schmunzelte. ,,Eine echte Meerjungfrau. Und wie heißt du?"

,,Rosalie." Sie lächelte schüchtern.

Und als sich ihre Augen im nächsten Moment wieder mit Tränen füllten, drohte Carlottas Herz vor Mitgefühl überzufließen. Am liebsten wäre Carlotta sofort aus dem Meer gestiegen und hätte Rosalie tröstend in ihre Arme gezogen. Wie ihre Omi das früher immer bei ihr machen hatte müssen. ,,Suchst du Jemanden?", fragte Carlotta sie nun vorsichtig.

,,Ja", bestätigte Rosalie schluchzend.

Das schlichte Wort fühlte sich wie ein schmerzhafter Stich in Carlottas Brust an. Wie konnte man nur so liebenswert sein?

,,Mein Hund Oscar ist mir davongelaufen, weil ich ihn geschimpft hab." Ihre Zunge stolperte kurz, als sie das schwierige Wort geschimpft versuchte über ihre rosigen Lippen zu bringen. Wieder wurde Carlotta ein kurzes Lächeln entlockt. ,,Und jetzt finde ich ihn nicht mehr", fügte sie verzweifelt hinzu.

,,Meinst du denn nicht, dass dein Oscar weiß, dass du nicht wirklich böse auf ihn bist?"

Zögerlich nickte Rosalie, während sie Carlotta aufmerksam zuhörte.

,,Und meinst du nicht, dass er deshalb schon ganz bald von selbst zu dir zurückkommt? Er vermisst dich doch sicherlich auch ganz schrecklich", versuchte Carlotta die Kleine zu beruhigen.

Wieder ein zögerliches Nicken.

Erleichtert atmete Carlotta auf und sagte schließlich: ,,Dann weißt du sicherlich auch, dass es jetzt am besten ist, wenn du einfach nach Hause gehst, dich ganz feste in dein Bett kuschelst und ganz tief schläfst? Deine Familie vermisst dich bestimmt schon ganz schrecklich und macht sich große Sorgen um dich. Und vielleicht ist Oscar ja sogar schon längst wieder bei dir zuhause und wartet auf dich."

Mit gesenktem Kopf stimmte Rosalie ihr zu. Und nach kurzen Zögern: ,,Kobe ist bestimmt böse mit mir, weil ich einfach weggelaufen bin." Leise Sorge zeichnete sich nun in ihrem kindlichen Gesicht ab, und ihre zarten Schultern verkrampften sich abermals.

Am liebsten hätte Carlotta neugierig nachgefragt, wer Kobe denn sei. Ihr Vater? Wohl eher nicht. Schnell schüttelte sie den Gedanken ab und versicherte Rosalie einfach nur, dass Kobe bestimmt nicht böse sein würde. Sondern einfach nur froh, dass Rosalie nichts passiert war.

,,Danke", flüsterte Rosalie. So leise, dass ihre Stimme beinahe im sanften Rauschen der Brandung unterzugehen drohte. Fast sah es so aus als würde Rosalie sich sogleich umdrehen, um einfach über die Dünen nach Hause gehen. Doch abermals hielt das süße, kleine Mädchen, das Carlottas Herz bereits jetzt wie im Sturm erobert hatte, inne: ,,Kommst du wieder?"

Carlotta wurde warm vor Zuneigung und sie spürte, dass sie die Antwort auf diese Frage selbst gerne wüsste. Denn einerseits wollte sie unbedingt wieder an diesen wunderschönen Ort zurückkehren. Mit Rosalie reden, die jetzt schon so etwas wie eine kleine Schwester für sie geworden war. Und auch Oscar würde sie gerne kennenlernen. Gleichzeitig wusste sie aber auch, dass eine Rückkehr unfassbar dumm von ihre wäre. Sie mochte beim ersten Mal Glück gehabt haben. Aber schon beim nächsten Mal konnten ihre schönen Erinnerungen an dieses Erlebnis komplett zerstört werden. Rosalie musste nur einen Erwachsenen überreden, der sie begleitete und dann... Energisch wischte sie den Gedanken daran beiseite. Um Rosalie und ihrer selbst Willen antwortete sie schließlich leise: ,,Vielleicht."

,,Du musst es mir versprechen", beharrte Rosalie in ihrer niedlichen Aussprache energisch und sah sie dabei ernst an. ,,Oscar und ich wollen doch mit dir spielen", behauptete sie wie selbstverständlich.

Carlotta überkam einen kurzen Moment lang schmerzhaft Wehmut darüber, dass sie ihr diesen Kindertraum wohl kaum erfüllen konnte. Wenigstens war Rosalie nun scheinbar nicht mehr traurig und machte sich auch keine allzu großen Sorgen mehr darüber Oscar wiederzufinden. Die Zuneigung des Mädchens rührte sie dennoch zutiefst. Kaum konnte sich Carlotta vorstellen jemals so unbeschwert und offenherzig gegenüber anderen gewesen zu sein. Ihren Schwestern und ihr war nun einmal von klein auf eingebläut worden, was es bedeutete eine Tochter des Meerkönigs zu sein. Natürlich durften auch sie in ihrer Freizeit spielen, wozu und mit wem sie Lust hatten. Aber selbst in diesen kleinen Momenten hatten sie niemals uneingeschränkte Freiheit genossen, wie Carlotta allmählich klar wurde. Sehr geschickt hatte ihr Vater selbst beim Spiel versucht seine Töchter zu formen und zu lenken. ,,Die Gedanken sind frei", hatte Carlotta einmal aufgeschnappt. Aber der Rest?

,,Bitte", riss Rosalie Carlotta aus ihren trübsinnigen Gedanken.

Und als Carlotta in die schönen, hoffnungsvollen Augen des kleinen Mädchens blickte, zum ersten Mal wirklich das erwartungsfrohe, kindliche Gesicht mit der süßen Stupsnase in sich aufnahm und den zierlichen, in ein einfaches Kleid gehüllten, Körper wahrnahm, war ihr als könne sie gar nicht anders antworten als: ,,Versprochen."

Das Mädchen mit den sprechenden AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt