Die Zeit verging und schon bald hatte der Alltag sie wieder gefangen genommen. Im Dorf und auf den umliegenden Feldern herrschte rege Betriebsamkeit. Carlotta betrachtete das Schauspiel fasziniert; das golden glänzende Getreide musste geschnitten, die Ären gedroschen werden. Das Korn wurde zur Mühle gebracht. Der Flachs stand in lilaner Blüte zur Ernte bereit. Die Bäume und Sträucher neigten ihre Äste unter dem Gewicht der prallen, reifen Früchte.
Carlotta konnte von all den prächtigen Farben und Düften, die die Natur stolz zur Schau stellte, kaum genug bekommen. Mit unstillbarem Eifer ließ sie sich von Emilie genau erklären, was wie auf dem hofeigenen Acker geerntet werden musste und auf welche Art und Weise daraus leckere Gerichte gezaubert werden konnten. Unmöglich konnte sie sich vorstellen, dass ihr dieser Kreislauf der Jahreszeiten jemals langweilig werden würde. Und auch obwohl sie den Winter und den Frühling noch nicht kennengelernt hatte, war sie sich sicher, dass sie auch deren Eigenheiten lieben lernen würde. In Momenten wie solchen, in denen sie sich von der Schönheit der Oberwelt schier erschlagen fühlte, spürte sie tief in ihrem Herzen, dass all das, was sie hatte erleiden müssen, ein wenig von seiner Schrecklichkeit verlor.
Aber nicht nur um sie herum hatte sich einiges verändert, sondern ganz besonders auch in ihrer eigenen kleinen Welt. Die Abende verbrachte sie nun immer öfter gemeinsam mit Kobe am Strand. Wie es letztlich dazu gekommen war, wusste sie gar nicht so genau, dafür jedoch, dass sie daran um nichts auf Erden etwas würde ändern wollen. Es war seltsam, denn tatsächlich freute sie sich zwar nach wie vor jedes Mal darauf, ihre Schwester zu sehen - es war unverändert schön, sie zu treffen - und doch fand sie es nicht schlimm, dass die gemeinsamen Treffen mit ihr seltener wurden. Es schien fast so, als brauchten sie einander nun weniger. Als hätten sie sich beide damit abgefunden, dass sie einander nicht mehr vollständig verstanden und dass sie nun, jede für sich, eigene Wege gingen.
Stattdessen genoss sie es zunehmend stillschweigend neben Kobe im kühler werdenden Sand zu sitzen und ihren Gedanken nachzuhängen, seine Schulter wärmend an der ihren. Kobes Anwesenheit wirkte beruhigend auf sie. Er nahm ihr die Angst vor der Schwärze der Nacht, die ihr, an den schlechten Tagen, seit dem Vorfall am Mittsommernachtsfest schwer zu schaffen machte. Sie war schreckhaft geworden und konnte Nähe und Enge nur schwer ertragen. Dennoch reichte oftmals ein Blick von ihm, die Kälte in ihrem Herzen zu vertreiben, ein Händedruck, um ihr ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, das sie so zuvor noch niemals gekannt hatte.
Das gemeinsame Schweigen gab ihr Kraft. Die Kraft sich nicht in sich selbst zurückzuziehen. Die Kraft trotzdem auch die schönen Dinge wahrzunehmen. Und die Kraft weiterhin an ihren Traum zu glauben.
Mit dem Umschwung der Jahreszeiten ging allerdings auch eine gewisse Melancholie einher. Das Wasser war zum Baden allmählich zu kalt geworden - gerade als es Rosalie nun endlich gelungen war, sich völlig sicher zwischen den schaukelnden Wellen zu bewegen. In den letzten sommerlichen Tagen hatte sie deshalb ausgelassen mit Oscar im Meer herumtollen dürfen - ganz ohne dass sich Emilie um sie hatte sorgen müssen.
Auf das Ende der ertragreichen Ernte folgte dann bereits das nächste große Fest. Erntedank. Mit all den prächtigen Früchten, dem Korn und verschiedenstem buntem Gemüse wurde aus diesem Anlass der Altarraum in der Dorfkapelle reichlich geschmückt. Alle Gläubigen versammelten sich an diesem Tag und lauschten einer Predigt über Dankbarkeit.
*
Bald darauf erhielt auch schon der November Einzug. Und mit Beginn diesen Monates wurde das Land von dichtem Nebel überzogen, den die Sonne nur noch immer seltener zu vertreiben vermochte. Der kalte Nordwind, der laut Hannes bereits den Geruch von bald fallendem Schnee mit sich brachte, weckte nicht gerade den Wunsch, sich im Freien besonders lange aufzuhalten. Und ging man doch einmal dick eingemummelt vor die Tür, so bildeten sich beim Atmen stets dicke Wölkchen vor dem Mund.
So auch am 11. November, an St. Martin. Rosalie hatte ihr voller Begeisterung schon Tage im Voraus ausführlichst alles über diesen Feiertag erzählt. Über die Legende dieses heiligen Mannes, die Hefegänse und natürlich über den Umzug. Gemäß des Brauches hatte Hannes mit dem aufgeweckten Mädchen in stundenlanger Arbeit eine wunderschöne Laterne aus Holz angefertigt; ringsherum verziert mit unzähligen eingearbeiteten Sternen, durch die das Licht nach außen scheinen sollte.
Aufgeregt tanzte Rosalie schon mittags durch die Wohnung und machte damit nicht nur Oscar ganz nervös. ,,Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne'', sang sie mit einer Leidenschaft, wie sie nur Kinder in diesem Alter aufbringen konnten. ,,Emilie, wann darf ich die Kerze denn endlich anzünden?" Emilie seufzte lächelnd und wollte gerade wiederholt zu einer Erklärung ansetzen, da plapperte Rose auch schon weiter: ,,Ich bin ja soo aufgeregt. Hoffentlich geht mein Licht nicht aus. Oscar, komm, ich will mit dir ,St. Martin' spielen und du sollst der Bettler sein, dem so schrecklich kalt ist." Carlotta lächelte Emilie belustigt und ein wenig überfordert zu. Selbst Emilie war anzusehen, dass sie trotz aller Liebe zu der Kleinen doch auch auf einen baldigen Beginn des Umzugs hoffte.
Wenige Stunden später war es dann soweit; alle gemeinsam brachen sie auf: Rosalie ging stolz mit Oscar und ihrem Sternenlicht voraus, dicht gefolgt von Emilie und Hannes, den sie letztlich doch auch noch dazu hatten überreden können mitzukommen. Mit ein wenig Abstand folgten schließlich auch Kobe und Carlotta.
*
,,Emilie, Hannes, seid ihr das?" Carlotta entdeckte eine freundlich aussehende Frau mit müden Augen in einem blassen, schmalen Gesicht, die von Emilie sogleich herzlich als ,,Carla" begrüßt wurde. Unter dem wollenen, einfachen Kopftuch lugten ein paar rote Locken hervor und ein kleines Mädchen, das scheinbar gerade so selbst laufen konnte, klammerte sich ein wenig schüchtern an ihren Rockzipfel. Es war unmöglich einzuschätzen, wie alt die Frau war; denn ließen ihre Haut und ihr Haar sie auf der einen Seite noch unglaublich jung aussehen, so sprachen ihre Augenringe, die tiefen Schrunden an ihren Händen und eine schlechte Körperhaltung dagegen eine ganz andere Sprache.
,,Mama, da bist du ja, wollten wir nicht eigentlich..." Unversehens war Colette aus der Menschenansammlung aufgetaucht und damit war nun auch klar, wieso Carlotta von Anfang an das seltsame Gefühl gehabt hatte, Carla komme ihr von irgendwoher bekannt vor. Colette war ihrer Mama wie aus dem Gesicht geschnitten, sah sie doch eindeutig jünger aus.
Nachdem auch noch der Rest von Colettes Geschwistern hinter ihr aufgetaucht war und Emilie Carlotta mit allen bekannt gemacht hatte, suchten sie sich gemeinsam einen Platz am Rande des Geschehens, von wo aus sie möglichst alles gut im Blick hatten.
Kurz bevor es losging, blickte Carlotta Colette noch neckisch suchend über die Schulter, um dieser zu verdeutlichen, dass sie sich fragte, wo ihre Begleitung abgeblieben war.
Colette lachte herzlich. ,,Mein Geliebter wollte lieber gemeinsam mit seiner Familie zum Umzug gehen, wir treffen uns dafür später noch kurz", erklärte sie. Und mit einem Blick auf Kobe fügte sie noch zwinkernd hinzu: ,,Aber wieso machst du dir darüber eigentlich Gedanken? Hast du nicht genug mit deinem eigenen zu tun?"
Als Antwort erschien lediglich ein verlegenes kleines Lächeln auf Carlottas Lippen und eine zarte Röte überzog ihre Wangen.
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Das Mädchen mit den sprechenden Augen
FantasíaCarlotta, die kleine Meerjungfrau, ist eine Träumerin. Nichts beschäftigt sie mehr als das Leben der Menschen, die Natur, die unendliche Weite. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als die Oberwelt zu entdecken. Bald schon ist dieser Wunsch in ihr so...