Die kleine Seejungfrau zog den Purpurteppich vom Zelte fort, und sie sah die schöne Braut mit ihrem Haupte an des Prinzen Brust ruhen. Sie bog sich nieder, küsste ihn auf seine schöne Stirn, blickte gen Himmel auf, wo die Morgenröte mehr und mehr leuchtete, betrachtete das scharfe Messer und heftete die Augen wieder auf den Prinzen, der im Traum seine Braut beim Namen nannte; nur sie war in seinen Gedanken, und das Messer zitterte in der Seejungfrau Hand - aber da warf sie es weit hinaus in die Wogen, die glänzten rot; wo es hinfiel, sah es aus, als keimten Blutstropfen aus dem Wasser auf. Noch einmal sah sie mit halbgebrochenem Blick auf den Prinzen, stürzte sich vom Schiff in das Meer hinab und fühlte, wie ihr Körper sich in Schaum auflöste. [...]
,,Zu wem komme ich?", fragte sie, und ihre Stimme klang wie die der andern Wesen, so geistig, dass keine irdische Musik sie wiederzugeben vermag.
,,Zu den Töchtern der Luft!", erwiderten die andern. ,,Die Seejungfrau hat keine unsterbliche Seele, kann sie nie erhalten, wenn sie nicht eines Menschen Liebe gewinnt; von einer fremden Macht hängt ihr ewiges Dasein ab. Die Töchter der Luft haben auch keine ewige Seele, aber sie können durch gute Handlungen sich selbst eine schaffen. Wir breiten den Duft der Blumen durch die Luft aus und senden Erquickung und Heilung. Wenn wir dreihundert Jahre lang gestrebt haben, alles Gute, was wir vermögen, zu vollbringen, so erhalten wir eine unsterbliche Seele und nehmen teil an dem ewigen Glücke der Menschen. Du arme, kleine Seejungfrau hast mit ganzem Herzen gelitten und geduldet, nun kannst du dir selbst durch gute Werke nach drei Jahrhunderten eine unsterbliche Seele schaffen."
Sie kleine Seejungfrau erhob ihre verklärten Augen gegen Gottes Sonne, und zum ersten Mal fühlte sie Tränen in ihren Augen. Auf dem Schiffe war wieder Lärm und Leben, sie sah den Prinzen mit seiner schönen Braut nach ihr suchen; wehmütig starrten sie den perlenden Schaum an, als ob sie wüssten, dass sie sich in die Fluten gestürzt habe. Unsichtbar küsste sie die Stirn der Braut, lächelte ihn an und stieg mit den übrigen Kindern der Luft auf die rosenrote Wolke hinauf, die den Äther durchschiffte.
*
So wäre das Kunstmärchen nach Hans Christian Andersen wirklich ausgegangen. Es schnürt mir immer wieder die Kehle zu, wenn ich diese Zeilen lese. Die kleine Meerjungfrau (bzw. Seejungfrau) hatte alles riskiert für die Liebe des jungen Prinzen, in den sie sich vom ersten Augenblick an verliebt hatte. Sie hatte ihn zu Beginn der Geschichte aus den Fluten gerettet; seine zukünftige Braut hatte ihn gefunden, sodass der Prinz annahm, sie hätte ihn gerettet - und nicht die kleine Meerjungfrau. Um bei ihrem Prinzen sein zu dürfen, hatte die kleine Meerjungfrau sich an die Meerhexe gewandt; im Tausch für ihre Stimme erhielt sie Beine, die ihr bei jedem Schritt schmerzen sollten. Ihr Glück war zudem an eine weitere Bedingung geknüpft: Nur wenn sich der Prinz in sie verlieben und sie zur Frau nehmen würde, würde alles gut gehen. Die kleine Meerjungfrau erhielte sogar die unsterbliche Seele, von der sie schon immer geträumt hatte. Doch an dem Tag, an dem der Prinz sich eine andere Frau erwählte, würde sie selbst als Schaum über dem Meer enden.
Der kleinen Meerjungfrau war schließlich von ihren Schwestern noch eine andere Lösung für ihr Glück erkauft worden: Sie hätte die Braut mit einem Messer der Meerhexe töten und selbst doch noch glücklich werden können. Und doch tat sie es nicht. Sie starb als tragische Heldin, die nichts Falsches tat als sich hoffnungslos zu verlieben.
Mein Herz konnte dieses Ende noch nie ertragen. Da lag es nur nahe, dass ich die Geschichte für mich selbst umschreiben musste. Dabei habe ich mich so nahe wie möglich am Original orientiert und alle wesentlichen Handlungsstränge aufgegriffen oder wenigstens parodiert. Carlotta und all ihre Schwestern kommen vor, die Sehnsucht nach der Oberwelt sowie der Handel mit der Meerhexe. Auch der Prinz und die Liebe sollten ihre Rollen bekommen - nur eben eine andere als im Original. In meiner Version sollte Carlotta sowohl ihren ,Traumprinzen' als auch ihre Seele bekommen. Letztere hat sie übrigens bei ihrer Hochzeit mit Kobe bekommen.
,,Es ist unglaublich wieviel Kraft die Seele dem Körper zu leihen vermag." (Wilhelm von Humboldt)
Ja, wirklich unglaublich. Die Macht der Liebe sowie die Kraft der Seele sollten Carlotta schließlich das von der Meerhexe genommene Pfand zurückgeben. Ihre Stimme.
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Das Mädchen mit den sprechenden Augen
FantasyCarlotta, die kleine Meerjungfrau, ist eine Träumerin. Nichts beschäftigt sie mehr als das Leben der Menschen, die Natur, die unendliche Weite. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als die Oberwelt zu entdecken. Bald schon ist dieser Wunsch in ihr so...