10. Kapitel - Carlotta

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Wie Carlotta letztlich zu Moreen gelangt war, konnte sie später nicht mehr sagen

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Wie Carlotta letztlich zu Moreen gelangt war, konnte sie später nicht mehr sagen. Vielleicht wurde sie mit einem Vergessenszauber belegt, vielleicht konnte sie aber auch einfach nicht anders als die Begebenheit zu verdrängen. Was es auch war, es bewirkte jedenfalls, dass sie keinerlei Erinnerung an den Weg zu Moreen und ihren Aufenthalt dort hatte. Vermutlich war das auch besser so. Wie von selbst hatte ihr Körper anschließend den Weg zu dem Ort eingeschlagen, an dem für sie alles begonnen hatte. Beim Anblick des schönen, friedlichen Sandstrands überkam Carlotta eine tiefe innere Ruhe und sie hatte das Gefühl endlich und wahrhaftig dort angekommen zu sein, wo sie schon immer sein wollte. Etwas entfernt setzte sie sich auf einen von der Sonne warmen Felsen und ließ die Schönheit der Bucht auf sich wirken. Wie bei ihrem letzten Besuch lag sie still und verschlafen da. Und das, obwohl Carlotta dieses Mal bereits zur Mittagszeit da war. Ihren Fischschwanz im kühlen Nass baumeln lassend, die kecke Nase in die würzige Meeresbrise gereckt, blickte sie verträumt in die Ferne und sah dort den Möwen beim Fischen zu, das beruhigende Rauschen der Brandung in den Ohren.

Lange konnte sie jedoch nicht ignorieren, weshalb sie nun ausgerechnet mitten am Tage ihres 16. Geburtstages wieder hier war. Bei der Erinnerung an Moreens Worte und ihr gruseliges schrilles Lachen, fröstelte sie trotz der warmen Mittagssonne und ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter:  ,,Falls du dich entscheiden solltest, dich in einen nutzlosen Zweibeiner verwandeln zu wollen - nur zu! Ich bin die Letzte, die dich davon abhält! Im Tausch für deine Stimme biete ich dir sogar den Trank dafür." In Gedanken verfolgten sie vor allem diese letzten Worte immer wieder: ,,Im Tausch für deine Stimme ... für deine Stimme ... Stimme ..." Und dann immer wieder dieses Lachen! Eine stumme Träne huschte über Carlottas Wange und die Phiole mit dem Trank in ihrer Hand fühlte sich auf einmal unendlich schwer an. Was hatte sie nur getan? Wie in aller Welt hatte sie sich das denn vorgestellt? So ganz allein in dieser fremden Welt. Und dann auch noch ohne Stimme! Ein verzweifelter Schluchzer schüttelte ihre schmalen Schultern und eine Welle der Einsamkeit überrollte sie.

Und dennoch war sie auf seltsame Art und Weise stolz auf sich. Denn tief in ihrem Herzen wusste Carlotta, dass sie sich richtig entschieden hatte. Natürlich war der Preis, den sie für ihre Freiheit gezahlt hatte hoch. Aber er war es allemal wert. Und mit einem letzten bitteren Gedanken an ihre geplante Hochzeit, schlossen sich ihre Finger etwas fester um die Phiole, bevor sie trotzig ihre feuchten azurblauen Augen zukniff, das Gefäß an ihre zart geschwungenen Lippen setzte und die perlmutfarbene Flüssigkeit endgültig ganz austrank.

Kaum dass sie den letzten Tropfen in sich aufgenommen hatte, begannen die Krämpfe. Krämpfe, die solch schreckliche Schmerzen in ihr auslösten, dass ihr der Atem stockte. Tränen liefen unaufhaltsam ihre Wangen hinunter und Carlotta krümmte sich auf dem warmen Felsen zusammen. Ihr war so heiß, dass sie sich am liebsten am tiefen Meeresgrund abgekühlt hätte und gleichzeitig doch so unfassbar kalt. Es war ihr als würde jemand mit tausend Klingen ihren Fischschwanz entzwei stechen und eine Welle der Übelkeit überrollte sie. In ihrem Innern baute sich ein markerschütternder Schrei auf, der ihre Kehle doch gleichzeitig niemals verlassen konnte, da Moreen ihr auf ewig ihre Stimme geraubt hatte. Carlottas Körper bebte und bäumte sich verzweifelt unter den übermächtig werdenden Schmerzen auf, denen sie doch nicht entkommen würde. Erneut wechselten sich flammende Hitze und klirrende Kälte ab. Ihr Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen, ihr Kopf drohte zu platzen und ihre Lungen schrien verzweifelt nach Luft. Ihre Sinne nahmen nichts wahr bis auf diesen alles verzehrenden Schmerz. Und dann wurde ihr schwarz vor Augen.

*

Das Erste, was sie verspürte, als sie wieder zu sich kam war ein unbeschreiblicher Durst. Der Schmerz in ihrem Körper war einem dumpfen Pochen gewichen, ihre Glieder fühlten sich steif an und ihre Kehle so wund und ausgetrocknet, als hätte sie tagelang geschrien. Carlotta hatte keine Ahnung wie viel Zeit vergangen war, seit sie den Trank zu sich genommen hatte, aber inzwischen war es wohl Abend geworden, denn die Sonne senkte sich gerade am Horizont, sodass Carlotta ein wundervolles Farbenspiel am Himmel erblickte. Rubinrote Schlieren mischten sich dort mit zarten Rosatönen. Kräftiges Orange mit sanften Fliedertönen. Azurblau mit türkis, violett und bernstein. Und während Carlotta dem glühenden Feuerball dabei zusah, wie er in der Ferne im tiefblauen Meer versank, wurden ihre Augenlider schwer und Schlaf übermannte sie.

Das Mädchen mit den sprechenden AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt