18. Kapitel - Kobe

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Die Zeit, seit seine kleine Schwester Rose das stumme Mädchen angeschleppt hatte, verging wie im Flug

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Die Zeit, seit seine kleine Schwester Rose das stumme Mädchen angeschleppt hatte, verging wie im Flug. Es ärgerte Kobe wie sehr sich plötzlich alles um sie drehte. Carlotta hier, Carlotta dort. Nirgends hatte er mehr seine Ruhe. Nicht einmal auf dem Boden, der bisher Kobes und Rosalies gemeinsamer Rückzugsort gewesen war. Dort hatten sich beide gemeinsam vor der Welt versteckt, schwere und schöne Stunden miteinander verbracht und nach dem Verlust ihrer Eltern endlich wieder zu sich selbst gefunden. Seit Carlotta jedoch da war, konnte er sich nicht einmal mehr dorthin ungestört zurückziehen. Alle waren sie so fürchterlich vernarrt in das Mädchen. Emilie liebte sie bereits jetzt wie ihr eigenes Kind, Oscar tänzelte ständig um sie herum, Rosalie sah bewundernd zu ihr empor und selbst der wortkarge Wirt hatte scheinbar einen Narren an ihr gefressen.

Grimmig stellte er den Krug, in den er gerade Bier gezapft hatte, etwas energischer als nötig auf dem Tresen ab, was ihm ein Stirnrunzeln vom Wirt einbrachte, der neben ihm Gläser polierte. Ihm war bewusst, dass er sich kindisch verhielt, weil er Carlotta ohne triftigen Grund derart verurteilte. Er kannte sie schließlich nicht, hatte aber auch nicht vor das in nächster Zeit zu ändern. Dafür war er einfach viel zu genervt von ihrer bloßen Anwesenheit.

Zudem hatte Emilie die grandiose Idee gehabt Carlotta heute zum ersten Mal beim Bedienen helfen zu lassen, weil Colette, die Schankmagd, unverhofft krank geworden war. Somit musste er sie nun auch noch während seiner Schichten ertragen. Zumindest, wenn sie sich nicht derart anstellte, dass Hannes sie aus dem Gastraum verbannte. Vermutlich war das sogar gar nicht so unwahrscheinlich. Wie sollte es ihr auch gelingen, wenn sie noch nicht einmal sprechen konnte? Geschweige denn, dass sie eine irgendwie geartete Erfahrung für diese Arbeit mitbrachte, so wie er sie einschätzte. So zart wie ihre Finger wirkten, hielt Kobe es für einen Moment sogar gar nicht unwahrscheinlich, dass sie aus gutem Hause kam. Wenngleich das auch wirklich seltsam wäre, führte man sich die Tatsache vor Augen, dass er sie ohne Kleidung am Strand aufgelesen hatte. Eines stand jedenfalls fest, das konnte noch heiter werden.

*

Wenig später bemerkte Kobe aus dem Augenwinkel, dass sich die Tür zur Küche geöffnet hatte und das zierliche Mädchen vorsichtig hindurchschlüpfte. Kurz sah sie sich unsicher um, bis ihr Blick auf Hannes fiel und sie zögerlich auf ihn zuging. Kobe versuchte sich wieder auf seine Arbeit konzentrieren, konnte aber nicht umhin, sich immer wieder dabei zu ertappen, wie er sich nach ihr umsah. Er musste zugeben, dass man es ihr kaum anmerkte, falls sie nervös war. Ihre Haltung war aufrecht und aufmerksam, als sie genau zuhörte, was Hannes ihr ruhig und verständlich in wenigen Worten erklärte.

Anschließend drehten die beiden eine kleine Runde durch den Raum, der mit den üblichen Mittagsstammgästen gefüllt war. Hannes stellte sie ihnen nacheinander vor und erklärte vermutlich noch kurz, dass Colette ausgefallen sei. Es versetzte Kobe einen Stich, als er das Mädchen so vertraut mit dem Wirt umgehen sah, der sonst Fremden gegenüber unglaublich reserviert war.

Als er das nächste Mal aufsah, fiel sein Blick auf zart geschwungene rosane Lippen, die sich lautlos vor ihm bewegten. Carlotta stand vor dem Tresen und blickte ihn abwartend aus tiefblauen Augen an. Dichte dunkle Wimpern rankten sich darum und warfen im Licht der Schankstube Schatten auf hübsche Wangenknochen. Zum ersten Mal bemerkte Kobe die winzigen Sommersprossen, die sich keck um ihre süße Nase verteilten. Süß? Hast du Fieber, Kobe, oder warum benimmst du dich wie ein verwirrter Trottel? Rasch bemühte er sich um Konzentration. Was hatte Carlotta soeben zu sagen versucht?

Beim zweiten Anlauf verstand er sie zum Glück sogleich: Mit der einen Hand zeigte sie zwei Finger auf, während sie mit der anderen auf den Zapfhahn deutete und mit den Lippen die Worte ,,zwei Bier, bitte" formte. Auch wenn es ihm schwerfiel, gelang es ihm sich dabei nicht erneut von ihrer ungewohnten Nähe irritieren zu lassen. Was war nur los mit ihm? Wenn Colette sonst versuchte mit ihm zu flirten, war ihm das doch auch schon immer egal gewesen.

,,Alles klar. Mach ich dir", bedeutete er ihr kurz angebunden, dass er sie verstanden hatte, konnte dabei jedoch nicht verhindern, dass seine Stimme leicht heißer klang.

*

Mit jedem Mal gelang es Kobe leichter, Carlottas Bestellungen auszuführen. Immer besser konnte er von ihren Lippen lesen, sodass er für die einfacheren Bestellungen bald nicht einmal mehr auf ihre Hände achten musste. Ab und an musste er sich zwar daran erinnern, mehr auf die Worte zu achten, als auf Carlottas Lippen, die sie formten, doch ansonsten verlief die restliche Schicht ohne weitere Zwischenfälle.

Als gegen Abend Rosalie in den Raum stürmte und darum bettelte mit Carlotta spielen zu dürfen, entließ der Wirt die beiden mit einem Lächeln. Ihm war anzusehen, dass er stolz auf Carlottas Leistung war und widerwillig musste sich Kobe eingestehen, dass auch er von Carlottas Arbeit beeindruckt war.

Natürlich waren nicht viele Gäste da gewesen und natürlich waren die Bestellungen nicht sonderlich schwer gewesen. Und dennoch: Trotz dem Carlotta noch nie etwas Vergleichbares getan hatte und zudem noch stumm war, hatte sie ihre Arbeit wirklich gut gemacht. War immerzu ruhig geblieben, hatte freundlich gelächelt und aufmerksam darauf geachtet, ob ein Gast noch etwas benötigte oder nicht.

Vielleicht sollte er ihr doch noch eine Chance geben, sie kennenzulernen...

Das Mädchen mit den sprechenden AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt