Auf die nebligen Novembertage folgte schließlich der Dezember, und mit dem Dezember fiel bald der erste Schnee auf die Erde nieder. Die Wiesen und Felder, die Dächer und Bäume waren von einer weißen, dichten Decke überzogen. Während die Tierwelt längst tief im Winterschlaf versunken war, brach auch bei den Menschen eine besinnliche Zeit an. Weihnachten stand vor der Tür. Das Fest der Familie. Dieses Jahr würden die fünf es zum ersten Mal zusammen feiern.
Das Haus wurde unter der strengen Anleitung von Emilie mit Tannen- und Mistelzweigen geschmückt. Sie dienten, so erklärte die Wirtin, dem Schutz vor bösen Geistern in den Rauhnächten und erinnerten zugleich an die Fruchtbarkeit des Sommers. Die Männer wurden in den Wald geschickt, um einen Weihnachtsbaum zu holen, der dann von den Frauen und Rosalie mit Äpfeln, Nüssen und Lebkuchen geschmückt wurde, die traditionell erst an Neujahr gegessen werden durften. Das ganze Haus wurde geputzt und vor den Feiertagen stand eine letzte große Wäsche an. Vorfreude und der Duft von Zimtgebäck lagen in der Luft.
Die Abende verbrachten sie oft gemeinsam in der Stube von Emilie und Hannes vor den prasselnden, warmen Flammen im Kachelofen. Carlotta liebte die heimelige Stimmung dieser Stunden. Manchmal teilte Emilie Erinnerungen aus ihrer Kindheit mit ihnen. Rosalie hing dann immer ganz gefesselt an ihren Lippen. An besonderen Tagen ließ sich auch Hannes dazu hinreißen, die ein oder andere Geschichte beizusteuern. Und dann gab es wiederum Momente, in denen jeder einfach still und friedlich seinen eigenen Gedanken nachhing. Emilie mit dem Kopf an Hannes' Schulter gebettet, Carlotta in Kobes Armen geborgen und Oscar in Rosalies Schoß gekuschelt. Das Knacken der Äste im Feuer und ihrer aller ruhiger Atem war alles, was zu vernehmen war.
Es war schwer zu beschreiben, wie sich Carlotta bei alledem fühlte. Selbstverständlich gab es noch Momente, in denen sie ihre Familie vermisste. Die Reue aber war sie losgeworden. Seltsam, aber irgendwie hatte sie sich in ihrer Zeit hier wohl ganz schön verändert. Seit Kobe sie gerettet hatte – seit sie sich mit ihm verlobt hatte – war sie stärker geworden. In so vielerlei Hinsicht. Sie hatte mit der Situation ihren Frieden gemacht und konnte nun das Gute darin sehen. Auch wenn es ganz schön versteckt war. Ihrem Vater hatte sie wohl unbewusst schon länger verziehen, dass er sie beinahe gezwungen hätte ein Leben nach seinen Vorstellungen zu führen. Fernab von ihrer geliebten Oberwelt. Sie begriff jetzt, dass der Druck, den er ihr damit gemacht hatte, auch gleichzeitig der Grund dafür gewesen war, dass sie sich getraut hatte alles auf eine Karte zu setzen und für ihr Glück einzutreten. Sie empfand lediglich Bedauern darüber, dass sie sich nicht richtig von ihm hatte verabschieden können und dass sie so auseinandergegangen waren.
Was ihre Großmutter und Virginie anging, war es ebenfalls leichter geworden. Besonders wenn sie am Strand war, fühlte sie sich mit ihnen verbunden. Sie wusste, dass die beiden einst wichtigsten Menschen in ihrem Leben sich für sie einfach nur wünschten, dass sie glücklich war - so wie sie sich das umgekehrt auch für diese wünschte. Und das war sie. Glücklich. Ihr Herz quoll beinahe über vor diesem stillen Glück, das wohl niemals versiegen würde.
Schon seltsam, dass ausgerechnet Kelon daran nicht ganz unschuldig war. Sicher, er hätte es auch beinahe zerstört. Aber eben nur fast. Denn letztendlich war er der Auslöser dafür gewesen, dass Kobe ihr einen Antrag gemacht hatte.
,,Geht es dir gut?" Kobes warmer Atem traf auf ihre Ohrmuschel. Ehrliche Sorge schwang in seiner Stimme mit. Ein Schauer lief über Carlottas Rücken. Denn manchmal konnte sie es noch immer kaum fassen. Dass es da diesen wundervollen, schönen Mann gab. Den liebevollsten Bruder, den sie kannte. Der jeden Tag aufs Neue dafür sorgte, dass die Angst in ihrem Herzen keine Chance hatte, jemals wieder aus ihrem Gefängnis auszubrechen. Der ihr Herz erobert und sie gefragt hatte, ob sie seine Frau werden wolle.
Sie drehte sich ein wenig in seinen Armen, damit er es sehen konnte. Das stille Glück, das sie wie selbstverständlich einhüllte und ihre Augen erstrahlen ließ.
Sie nickte und hielt seinen Blick für einen Moment fest. Verlor sich im Grün seiner Augen und lächelte. In den Augen dieses starken Mannes, gegen den kein Albtraum der Welt eine Chance hatte. Sie wusste, dass er für sie da sein würde. So wie sie für ihn. Jeden Tag. Sie freute sich schon darauf.
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Das Mädchen mit den sprechenden Augen
FantasyCarlotta, die kleine Meerjungfrau, ist eine Träumerin. Nichts beschäftigt sie mehr als das Leben der Menschen, die Natur, die unendliche Weite. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als die Oberwelt zu entdecken. Bald schon ist dieser Wunsch in ihr so...