Als Carlotta am Abend müde auf ihr Nachtlager fiel, meinte sie sich nie mehr bewegen zu können. Ihre Arme und Beine waren vom langen Stehen im Wirtshaus schwer wie Blei und ihr zarter Rücken fühlte sich ein wenig steif an. Mit einem stolzen Lächeln erinnerte sie sich an den vergangenen Tag. Sie hatte es doch tatsächlich geschafft! Niemals hätte sie gedacht das Bedienen so gut zu meistern. Schließlich hatte sie so etwas noch niemals zuvor getan. Und dennoch war es ihr gelungen.
Sicher, das war freilich nicht ihr alleiniger Verdienst. Hannes hatte ihr schließlich immerzu beigestanden und die wenigen Gäste gut auf sie vorbereitet. Es konnte im Prinzip gar nichts mehr schief gehen. Trotzdem machte es Carlotta Mut. Es fühlte sich wundervoll an endlich einmal zeigen zu können, was in ihr steckte, sich für die Güte von Emilie und Hannes erkenntlich zeigen zu können. Es gab ihr das Gefühl, als könnte sie es tatsächlich schaffen, sich in der Welt der Menschen richtig einzuleben. Sich etwas aufzubauen. Und dabei einfach sie selbst zu sein. Zufriedenheit erfüllte Carlotta so tief wie noch niemals zuvor in ihrem Leben.
Eine Weile lag Carlotta einfach nur da. Lauschte auf ihren Atem. Und blickte durch das Dachfenster nach draußen in den dunklen Nachthimmel, der von funkelnden Sternen und einem hell leuchtenden Vollmond erfüllt war. Sie musste daran denken, dass der Himmel nicht nur das Land der Menschen überspannte, sondern auch den Ozean ihrer Familie. Was Virginie wohl jetzt gerade tat? Ob sie vielleicht auch an sie dachte?
So sehr sie auch versuchte, nach diesem langen Tag einfach einzuschlafen, es gelang ihr nicht. Und je mehr sie sich bemühte nicht an ihre Schwestern und ihre Großmutter zu denken, desto wacher wurde sie und desto mehr fühlte sie den Schmerz in ihren Fußsohlen, den sie bisher gekonnt ignoriert hatte. Schließlich stemmte sie sich kurzerhand hoch, schnappte sich eine wollene Decke und tapste bemühte leise auf wunden Sohlen die Dielen entlang, die enge Stiege hinab und schließlich aus dem Haus an den Ort, der sie, seit sie denken konnte, magisch anzog. An den Strand, an dem sie einst Carlotta gesehen hatte. An den Strand, an dem alles angefangen hatte.
Das Wasser schimmerte dunkel im Mondlicht und das Rauschen der Brandung beruhigte sie sofort. Schon immer war sie zu den Klängen des Meeres am besten eingeschlafen. Und das würde sich vermutlich auch nicht mehr ändern. Ein Erbe, das sie für immer daran erinnern würde, wer sie war und woher sie kam.
Am Strand blieb sie schließlich stehen, grub ihre Zehen in den kühlen nassen Sand und blickte über die unendlich scheinende Weite des Meeres. Ihr kam der Gedanke, dass diese Weite für manche Menschen vielleicht genauso anziehend wirken könnte, wie die Welt der Menschen auf sie. Eine seltsame Vorstellung. Wie hoch wohl der Preis war, den ein Mensch dafür zu zahlen bereit war? Wie von selbst suchten ihre Augen nach dem Felsen, auf dem sie die Gestalt eines Menschen angenommen hatte und im Tausch für Flosse und Stimme zwei Beine erhalten hatte. All das schien bereits eine Ewigkeit her zu sein.
Unbewusst bewegte sie sich immer weiter auf den Felsen zu, bis sie schließlich mit ihren Zehen das Meerwasser berührte; bald ganz mit ihren Füßen im Wasser stand. Den Saum ihres Nachthemdes hielt sie gerafft nach oben, um es möglichst nicht nass zu machen. Die Decke hatte sie sich um ihre Schultern geschlungen, um sich vor der kühlen Brise zu schützen, die ihr um die Nase wehte. Gierig leckten die kleinen Wellen nach ihr und hießen sie willkommen. Vorsichtig watete Carlotta auf den Felsen zu und zog sich schließlich mit klammen Fingern daran empor.
,,Carlotta?", ertönte da schließlich eine ihr wohl bekannte Stimme. Könnte das...? Das konnte doch unmöglich...?
,,Virginie", schrie alles in ihr, als sie die zarte Gestalt etwas weiter draußen zwischen den schäumenden Wellen ausmachen konnte. ,,Virginie", seufzte sie glücklich in Gedanken.
,,Carlotta? Bist du es wirklich? Ich..." Virginies Stimme brach ab und wurde von den Wellen verschluckt. Doch das machte nichts. Denn sogleich entstand wieder ihre vertraute Bindung. Die Verbindung, durch die sie sich miteinander in Gedanken unterhalten konnten. Aber nicht nur mit Worten. Auch mit Bildern. Und Gefühlen. Und so verstand Carlotta das Ende von Virginies Satzes dennoch. ,,Ich hab dich so vermisst", flüsterte sie.
,,Ich dich auch", antwortete Carlotta sogleich und sprach damit aus, was ihr Herz schmerzlich fühlte. Virginie und sie waren wie zwei Hälften eines Ganzen. Sie brauchten einander. So sehr. Wie sehr, war Carlotta bislang nicht klar gewesen.
,,Virginie?", fragte sie zögerlich.
,,Ja?"
,,Ich..."
Virginie machte keine Anstalten Carlotta dazu zu drängen ihren Satz zu beenden. Stattdessen wartete sie einfach ruhig ab und vermittelte ihrer kleinen Schwester, dass sie da war. Einfach so. Und das, obwohl Carlotta sich mit ihrer Entscheidung der Unterwasserwelt zu entfliehen im Grunde auch gegen ihre Schwester gewandt hatte. Carlottas Augen schimmerten verdächtig und ein Schluchzer drohte ihrer Kehle zu entschlüpfen so sehr schmerzte sie der Gedanke.
,,Schsch, Carlotta. Alles ist gut", versuchte Virginie sie zu beruhigen.
Carlotta schniefte. ,,Ich... würdest du... kannst du bitte morgen Abend wiederkommen? Hierher?"
,,Natürlich. Das wäre schön. Es tut so gut endlich wieder bei dir zu sein. Vielleicht..." Nun war es an Virginie kurz zu zögern. ,,Vielleicht können wir uns ja jeden Abend treffen?" Und ohne Carlotta die Chance zu geben zu antworten schob sie sogleich hinterher: ,,Sofern du das überhaupt möchtest natürlich. Du musst nicht. Keine Sorge. Ich bin die Letzte, die dich zu etwas zwingen würde."
,,Das weiß ich doch", entgegnete Carlotta ruhig und fuhr dann bestimmt fort: ,,Und ja, das möchte ich sehr gerne."
*
Sonnenstrahlen kitzelten Carlottas Nasenspitze und schienen warm auf ihr Gesicht. Erholt und steifgliedrig zugleich öffnete sie erwartungsvoll ihre azurblauen Augen und war im ersten Moment verwirrt: Sie lag nicht wie erwartet in der Dachstube auf ihrer Strohmatte, sondern unter einer kratzigen Wolldecke auf dem Felsen am Strand.
Es dauerte einige Wimpernschläge, bis sie sich daran erinnerte, wieso sie hier war. Dann jedoch schlich sich ein sanftes Lächeln auf ihre Lippen. Ihre Brust wurde ganz warm bei dem Gedanken an das Gespräch mit ihrer Schwester und ihre Fingerspitzen kribbelten schon jetzt voller Vorfreude auf das baldige Wiedersehen. Selbst als ihr siedend heiß einfiel, dass sie sich sputen musste, wenn sie noch rechtzeitig zur Arbeit kommen wollte und trotz der Tatsache, dass ihr Rücken von ihrem unbequemen Nachtlager stark malträtiert worden war, wollte das Lächeln einfach nicht mehr aus ihrem Gesicht verschwinden.
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Das Mädchen mit den sprechenden Augen
FantasíaCarlotta, die kleine Meerjungfrau, ist eine Träumerin. Nichts beschäftigt sie mehr als das Leben der Menschen, die Natur, die unendliche Weite. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als die Oberwelt zu entdecken. Bald schon ist dieser Wunsch in ihr so...