Carlotta zuckte heftig zusammen. Der Schrei des jungen Mannes erlöste sie aus ihrer Schockstarre. Fast zu spät begriff sie, was vor sich ging. Der Wüstling war wiedergekommen und hatte sich als Prinz entpuppt. Colette hatte versucht sie beide zu schützen und damit wahrscheinlich alles nur noch schlimmer gemacht.
,,Drecksköter", zischte der Prinz wutentbrannt mit fest aufeinandergepressten Kiefern. Schmerzerfüllt hielt er sich seine Wade. Oscar hatte sich aus seinem Versteck gewagt und treu seine beiden Mädchen beschützt. Vielleicht war er sogar von Rosalie geschickt worden, die sich hoffentlich noch immer versteckt hielt.
Als Oscar mutig noch einen weiteren Vorstoß wagte, wurde er von einem schweren Stiefel brutal in die Seite getreten. Er jaulte vor Schmerz. Und gab dennoch nicht auf. Erneut wagte er sich mit angelegten Ohren und gefletschten Zähnen näher an den Prinzen heran.
,,Haltet mir dieses Scheusal vom Leib", brüllte dieser und stolperte sicherheitshalber ein paar Schritte rückwärts. Dabei stieß er mit der Schulter an einen Schürhaken, der an der Wand gelehnt hatte. Ein boshaftes Glitzern war in seinen seelenlosen Augen zu sehen, als sich seine Finger um den Griff des Schürhakens schlossen.
,,Oscar", flüsterte Colette. Ihre Stimme zitterte und ihr war anzuhören, dass sie sich am Rande der Erschöpfung befand. Carlotta ging hastig in die Hocke. Das Herz schlug den Mädchen bis zum Hals. Beide versuchten sie verzweifelt Oscar vom Prinzen wegzulocken. Der sonst so ruhige, große Hund war kaum mehr wiederzuerkennen. So sehr sie ihn auch dafür liebten, so reagiert zu haben – er musste sich einfach beruhigen!
Erneut wurde die schwere Eingangstür weit aufgestoßen. Ein Schwall kalter Luft schwappte ins Innere. Zwei weitere junge Männer stürmten, vom Schrei angelockt, herein und postierten sich links und rechts vom Prinzen. Wie eine Leibgarde standen sie da, auf alles gefasst, mit unbeweglichen Gesichtern.
Das Auftreten der Männer empfand Oscar sichtlich noch als zusätzliche Bedrohung. Aufgebracht bellte er tief. Das Fell aufgestellt, um sich größer zu machen, umkreiste er die Gefahr.
,,Letzte Chance, ihr Weiber! Entweder ihr pfeift euren Köter zurück, oder das wars dann mit ihm."
Noch ehe Carlotta und Colette wussten, wie ihnen geschah, stürmte ein kleiner Wirbelwind an ihnen vorbei; Rosalie, wie sie mit Schrecken begriffen. Die baute sich breitbeinig und unerschrocken vor dem Prinzen und seiner Leibgarde auf: ,,Das dürft ihr nicht! Oscar ist mein Hund!" Wütend stampfte sie mit ihrem kleinen Fuß auf. Wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre, so hätten die Mädchen womöglich darüber lachen können. Über die süße, kratzbürstige Rose.
Aber jetzt gerade hatten sie wirklich anderes im Kopf; Rosalie musste so schnell wie möglich hier raus! Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis alles eskalieren würde. Wenigstens war Oskar bei Rosalies Auftreten direkt an ihre Seite gesprungen.
,,Na los, geht schon", flüsterte Colette dem Mädchen eindringlich zu. Doch die bewegte sich nicht. Trotzig verschränkte sie ihre Arme vor der Brust. Carlotta flehte sie eindringlich mit ihren Augen an, zu tun, worum Colette sie gebeten hatte. ,,Verschwindet! Lauft!" Letzteres schrie Colette nun fast.
Doch das war definitiv zu laut gewesen. ,,Halt", bedeutete Kelon donnernd. ,,Keiner verlässt den Raum, bevor ich es sage." Seine Leibwachen machten wie zur Bestätigung einen Schritt nach vorn.
,,Das glaube ich nicht", mischte sich die warme Stimme des Wirtes von hinten ein. Carlottas Schultern entspannten sich fast unmerklich ein wenig, als sie seine unerschütterliche Gestalt in der Nähe des Tresens erblickte. Wie ein Fels in der Brandung stand er da; Emilie hinter seinen breiten Schultern verborgen. ,,Was will er hier?", wandte Hannes sich an Colette.
,,I-ich, er ist einfach..."
,,Was er hier will?", wurde Colette das Wort abgeschnitten. ,,Ihr meint wohl eher: Wie kann ich Euch dienen, werter Herr?" Ein grausames Lachen folgte. ,,Ich bin Prinz Kelon. Und ich beanspruche soeben lediglich das, was mir zusteht." Mit einem lässigen Wink bedeutete er einer seiner Wachen vorzutreten.
Ein Pergament wurde entrollt. Eine Ankündigung verlesen. Der Wortlaut ging in Emilies Schluchzen unter, die sich ängstlich an den Arm ihres Mannes klammerte, im lauten Klopfen von Carlottas eigenem Herzschlag, war kaum noch hörbar zwischen den ungläubigen Neins von Colette und dem inbrünstig ausgestoßenen Fluch von Hannes. Und doch brannte er sich in ihrer aller Köpfe unlöschbar fest ein. Der Prinz durchstreifte scheinbar auf der Suche nach einigen hübschen, jungen Frauen sein Land. Was er mit ihnen anstellen würde, stand nirgends geschrieben. Es war aber ohnehin unmissverständlich. Sie würden nichts weiter als Mätressen in seinem persönlichen Harem werden.
Wie durch einen Schleier registrierte Carlotta, dass Kobe dazugestoßen war. Ihr Herz geriet für einen Moment aus dem Takt, als sie sah, dass der Wirt Mühe hatte ihn zurückzuhalten. Kobe war außer sich. Angespannt ballte er die Fäuste und stieß wütende Drohungen aus. Es sah beinahe so aus, als würde er den Prinzen zu einem Duell herausfordern wollen. Wie süß, aber auch unfassbar leichtsinnig von ihm! Letzterer schenkte Kobe jedoch zum Glück keinerlei Beachtung.
Carlotta konnte einfach nicht wahrhaben, dass das gerade wirklich geschah. Dass ihr das gerade geschah. Soll es das jetzt gewesen sein? Sollte ihr Traum einfach so enden? Wegen eines habgierigen, widerlichen Prinzen? Sie verfluchte sich selbst dafür, dass sie zu nichts weiter in der Lage war als untätig herumzustehen. Durch das Echo ihrer Gedanken nahm sie wahr, wie sich Kelons Lippen erneut spöttisch bewegten. Er sah ihr direkt in die Augen. ,,Sofern du nicht in festen Händen bist, gibt es also nichts mehr, was dich retten könnte, wie du siehst."
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Das Mädchen mit den sprechenden Augen
FantasyCarlotta, die kleine Meerjungfrau, ist eine Träumerin. Nichts beschäftigt sie mehr als das Leben der Menschen, die Natur, die unendliche Weite. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als die Oberwelt zu entdecken. Bald schon ist dieser Wunsch in ihr so...