Am nächsten Morgen wurde Carlotta früh wach. Im nervöser Erwartung auf den kommenden Tag, mischten sich wirre Gedanken in ihre lebhaften Träume und verhinderten so, dass sie noch einmal zur Ruhe kommen konnte. Resignierend schwang sie daher die Beine aus ihrem Nachtlager und gähnte schlaftrunken. Wie schon an ihrem ersten Morgen in der Kammer bewunderte Carlotta träumerisch das Spiel der ersten schwachen Sonnenstrahlen, die durch die Dachluke fielen und die Staubkörnchen in der Luft tanzen ließen. Kurz horchte sie, ob womöglich schon jemand außer ihr im Haus wach war, vernahm jedoch nichts als friedliche Stille. Keine Stimmen. Kein Gewerkel. Keine Schritte. Lediglich das Rascheln der Blätter draußen und vereinzelte Rufe der Hoftiere drangen an ihr Ohr. Sie seufzte. Wie um ihres Vaters Willen konnte sich dies alles nur so unglaublich vertraut anfühlen?
Leise stemmte sich Carlotta schließlich hoch, wartete noch einmal kurz, ob doch schon jemand zu hören war. Da war jedoch nichts. Kurz überlegte sie, was sie jetzt wohl tun konnte, solange das Haus im friedlichen Schlaf ruhte, da verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln. Natürlich, sie würde ans Meer gehen und eine Runde schwimmen. Das würde ihr guttun. Sie hoffte nur... Nein. Energisch wischte sie jeden Gedanken an ein mögliches Wiedersehen mit ihren Schwestern und ihrer Großmutter beiseite. Ihr dummes kleines Herz sollte sich endlich damit abfinden, wie unrealistisch dieser Wunsch war.
*
Mit noch feuchten Haaren, die vom salzigen Meerwasser ein wenig gelockt waren und einem aufgeregten Funkeln in den azurblauen Augen betrat Carlotta schließlich wenig später die Schenke. Beim Anblick der regen Betriebsamkeit, die zwar ein wenig hektisch, aber durchaus organisiert wirkte, konnte sie kaum glauben, dass in der Früh wirklich noch alles wie ausgestorben dagelegen hatte. Sie war noch nicht einmal ganz durch die Tür zur Küche geschlüpft, da hatte Emilie ihr auch schon eine weiße Schürze in die Hand gedrückt. ,,Schön, dass du da bist, Carlotta. Du kannst mir gleich helfen das Gemüse zu waschen und anschließend klein zu schneiden. Ich mach es dir jeweils einfach kurz vor. Wenn du eine Frage hast, brauchst du dich nur zu melden, ja?"
Auch wenn Carlotta die Aufforderung sich bei Emilie zu melden, sollte sie Schwierigkeiten haben, ein wenig ironisch erschien, beschwerte sie sich nicht. Sie war sich einfach sicher, dass Emilie bei ihrer Formulierung gar nicht groß darüber nachgedacht hatte. Außerdem war Carlotta einfach nur froh, endlich etwas tun zu dürfen und so freute sie sich regelrecht darauf, Emilie zur Hand gehen zu dürfen.
Dass das gar nicht so einfach war, wie gedacht, stellte sich schon wenig später heraus. Carlotta hatte schließlich in ihrem jugendlichen Leben als Meerprinzessin noch niemals handwerkliche Arbeit verrichten müssen. Dafür gab es schließlich die Gärtner und Köchinnen und all die anderen Bediensteten des Schlosses. Carlotta kam sich plötzlich furchtbar verwöhnt vor und schämte sich fast ein wenig dafür, dass sie all diese alltäglichen Gefälligkeiten für so selbstverständlich erachtet hatte. Ihre zarten Finger waren die Arbeit in der Küche schlichtweg nicht gewohnt. Trotzig versuchte Carlotta den Schmerz in ihrem Rücken und den Oberarmen, der von der ungewohnten Haltung kam, zu ignorieren und biss die Zähne zusammen. Auch ihre Füße taten ihr vom langen Stehen furchtbar weh und brannten wie von abertausend Nadelstichen.
Aua! So ganz in Gedanken versunken hatte Carlotta nicht mehr richtig auf das scharfe Messer in ihrer Hand geachtet, und war abgerutscht. Nun klaffte ein kleiner, aber tiefer Schnitt in ihrem linken Daumen, in dem sich bereits Blut sammelte.
Emilie warf ihr einen flüchtigen Blick zu, um zu kontrollieren, wie weit sie bereits gekommen war. Sie seufzte, als sie Carlottas Missgeschick bemerkte. ,,Du hast noch nicht sonderlich oft in deinem Leben in der Küche geholfen, richtig?", fragte Emilie.
Carlotta nickte beschämt und versuchte nicht alles mit ihrem eigenen Blut vollzutropfen.
Emilie bedeutete Carlotta schlicht sich in der Waschschale abzuwaschen und riss, ohne zu überlegen, einen schmalen Streifen Leinen von einem herumliegenden Geschirrtuch ab. ,,Na ja, das kriegen wir schon hin, denke ich. Mit ein wenig Übung sollte dir die Arbeit bald wie von selbst von der Hand gehen. Du darfst nur nicht so viel träumen", meinte sie lächelnd und band den Stoffstreifen kurzerhand um Carlottas Daumen, damit nichts mehr vollgeblutet werden konnte.
Stille Dankbarkeit durchflutete Carlotta. Sie wusste Emilies ruhige Reaktion wirklich zu schätzen. Es war wirklich nicht selbstverständlich, dass Emilie sie so bereitwillig aufgenommen hatte. Außerdem wusste sie, dass sie keine große Hilfe war. Emilie hätte für dieselbe Arbeit vermutlich nicht einmal ein Drittel der Zeit gebraucht. Aber davon ließ sich Carlotta nicht einschüchtern. Sie wollte das hier. Und kein Gemüse der Welt würde sie an ihrem Traum hindern, hier in der Welt der Menschen glücklich zu werden.
*
Am Ende des Tages konnte Carlotta lange nicht einschlafen, auch wenn sie furchtbar erschöpft war, aber ihre Gedanken wollten einfach nicht stillstehen. Zu viel hatte sie an diesem einzigen Tag erlebt.
Emilie hatte ihr gezeigt, wie man Gemüse wusch und geschickt gleichmäßig zuschnitt, wobei in Carlottas Fall von geschickt noch nicht die Rede sein konnte. Sie hatte ihr erklärt, wo sie Wasser holen konnte, damit immer genügend zur Verfügung war. Und am Ende des Tages hatte sie ihr sogar noch vorgeführt, wie Carlotta in Zukunft das Herdfeuer überwachen konnte, damit sich Emilie nicht mehr darum kümmern musste. Wo Feuerholz bereit lag und wie man am besten nachlegte, damit die Hitze beständig blieb und die Küche nicht in Rauch erstickte.
Zufrieden schloss Carlotta die müden Lider und zum ersten Mal wallte Stolz in ihr auf. Stolz darauf, dass sie sich wahrhaftig getraut hatte gegen den Willen ihres Vaters ihre Heimat zu verlassen. Und darauf, dass sie nicht aufgegeben hatte an ihren Traum zu glauben, was auch passierte. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und ihre beanspruchten Glieder fühlten sich angenehm schwer auf ihrem Nachtlager an. Der tiefe Wunsch nach Anerkennung bahnte sich einen Weg zu Carlottas Herzen. Anerkennung von Emilie. Sie wollte dieser unglaublichen Frau, die sie so sehr bewunderte, so gern etwas zurückgeben für all das, was sie für Carlotta getan hatte. Und irgendwie würde ihr das auch gelingen, da war sie sich sicher.
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Das Mädchen mit den sprechenden Augen
FantasíaCarlotta, die kleine Meerjungfrau, ist eine Träumerin. Nichts beschäftigt sie mehr als das Leben der Menschen, die Natur, die unendliche Weite. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als die Oberwelt zu entdecken. Bald schon ist dieser Wunsch in ihr so...