Prolog

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Ein Sturm fegte durch die Gassen der Stadt. Die Fensterläden klapperten unaufhörlich gegen die Hauswand. Elena trommelte mit ihren Fingern im Gleichklang zum Regenprasseln auf den Holztisch. Wie gebannt starrte sie auf die Petroleumlampe, welche für eine schummrige Beleuchtung im Esszimmer sorgte.

Endlich löste sie ihren Blick. Viel zu lange hatte das Mädchen in die Flamme gesehen. Vor ihrem geistigen Auge nahm sie ein Flackern wahr. Sie rückte sich ihren Stuhl zurecht und ihr Blick fiel auf die Uhr. Zwischenzeitlich war es spät geworden. Dann sah Elena auf die andere Seite des Tisches zu ihrer kleinen Schwester Doro, die sich ihre weißen Haare zu einem Zopf flocht.

Elena erteilte ihrer kleinen Schwester einen Befehl, verpackte dies jedoch als Vorschlag: "Wir sollten ins Bett gehen, Doro. Morgen ist wieder Schule."
Dagegen legte die Kleine Protest ein: "Aber Papa ist noch nicht zurück. Und Marco hab ich schon seit Wochen nicht mehr gesehen."

Seit Stunden warteten die beiden Schwestern auf die Rückkehr ihres Vaters, vergebens.
Die Größere zeigte Verständnis: "Ich vermiss Marco auch, aber Schule..."
Sie stützte ihr Kinn auf ihre Hand ab und seufzte aus. Sie wusste, dass sie Doro damit nicht überzeugen würde.
Schon kam der Widerspruch von der Kleinen: "Und was soll unser Bruder sagen, wenn er wieder heimkommt und wir ihn nicht begrüßen?"

Während Elena weitere Überzeugungsarbeit zu leisten versuchte, klackte die Türklinke nach unten. Mit einem nasskalten Wind flog die Tür auf.
Ihre Blicke fielen in den Türrahmen und die Schwestern erkannten voller Freude: "Papa!"
Die Mädchen sprangen von ihren Stühlen und stürmten auf ihn zu. Suchend blickten sie hinter den großgewachsenen Mann, von dem sie ihre weißen Haare geerbt hatten, doch hatte er niemanden mitgebracht.

In Elena wich die Freude und Sorgen machten sich breit.
Sie rang sich zu der Frage: "Papa, wo ist Marco?"
Er kniete sich auf die Höhe der Mädchen und legte je eine Hand auf die Schultern von Doro und Elena. Mit glasigen Augen sah er auf die beiden. Ein heiseres Schluchzen entfuhr dem Mann, in dessen breitem Gesicht sich mittlerweile die ersten Falten abzeichneten. Er war von breiter muskulöser Statur, die vermuten ließ, dass ihn nichts so leicht zu Tränen rührte.
Dennoch quollen seine Augen über: "Meine Mädls, es tut mir so leid. Euer Bruder ist noch im Lazarett."

"Da machen die ihn wieder gesund, richtig?", fragte Doro in ihrer kindlichen Naivität, so naiv, wie ein Kind im Alter von sieben Jahren eben war.
Anhand des Zustands ihres Vaters begriff Elena hingegen sofort, was Sache war. Tausende Gedanken rauschten, ihre Ohren dröhnten. Das Mädchen beugte sich zur Seite und hielt sich den Kopf. Sie musste zu ihrem Bruder und zwar sofort! Elena sprang an ihrem Vater vorbei und sprintete in die stürmische Nacht zur Tür hinaus.
Sie hörte den Ruf ihres Vaters: "Elena, warte!"

Doch davon ließ sie sich nicht abhalten. Sie wollte nur zu Marco.Die Zwölfjährige rannte in den Norden der Stadt, wo in den letzten Jahren die Sanitätszelte des Militärs aufgebaut waren. Ihre Füße klebten wegen des Matsches beinahe am Boden fest.
Die Regentropfen peitschten ihr ins Gesicht und fühlten sich auf der Haut wie Nadelstiche an. Zum Schutz vor Wind und Wasser kniff sie ihre dunkelblauen Augen so eng wie möglich zusammen und so sah sie gerade noch das Nötigste.

Endlich erreichte Elena die Wiese im Norden, wo sich das Lazarett befand. Im Zelt angekommen konnte sie verschnaufen, aber ihre Lungen brannten. Sie dachte, sie müsste diese ausspucken. Aber Elena hatte nicht vergessen, weswegen sie hier war. Sie wollte ihren Bruder finden. Die diensthabende Krankenschwester warf einen verdutzten Blick auf das Mädchen. Offenbar hatte sie zu so später Stunde nicht mehr mit Besuch gerechnet. Sie kam hinter dem Tresen hervor, welcher notdürftig aufgebaut war und für die Registrierung der Verletzten diente.

Die Krankenschwester beugte sich mit einem Lächeln zu Elena: "Na? Was brauchst du?"
Das Mädchen zog verschüchtert ihren Kopf ein. Sie gab keine Antwort. Stattdessen huschte sie an der Dame vorbei in die Krankenkammer, wo die Verletzten der Schlachten behandelt wurden. Der Wind drückte den Stoff des Zeltes nach innen. Ob es den Sturm überstehen würde?
Gebannt starrte sie auf die Krankenbetten. Das Mädchen brach in Panik aus, als sie ihren Bruder nicht sofort entdeckte. Es waren einfach zu viele Verletzte.

Ein schriller Schrei entfuhr Elena: "Marco!"
Die anderen Verwundeten reagierten nicht auf ihren Ruf. Nur im hintersten Eck sah sie einen Wink, wo das weißhaarige Mädchen hineilte. Elena erkannte ihren Bruder.
Sie war noch völlig außer Atem: "Marco! Ich hab dich so vermisst!" Das Mädchen sah ihm ins Gesicht und dann an seinem Körper hinunter. Ein mit Blut getränkter Verband war um seinen Bauch gewickelt. Bei diesem Anblick stiegen dem Mädchen die Tränen in die Augen.

Marco war geschwächt. Nur keuchend brachte er seine Worte raus: "Sieht nicht so gut aus bei mir, was?"
Er war sich seiner Situation vollkommen bewusst war. Elena begann zu schluchzen. Sie beugte sich über ihn und legte eine Hand auf seinen Kopf.
Kaum fähig ein klares Wort auszusprechen erzitterte ihre Stimme: "Bitte, du musst bei uns bleiben!"
Der große Bruder war nur noch fähig zu flüstern, so sehr er sich auch bemühte: "Hey kleine Schwester. Ich glaub du siehst ein, dass mir nicht mehr zu helfen ist."
In Angesicht seines Schicksals schluckte er und seine Mundwinkel verzogen sich unwillkürlich nach unten: "Es tut mir leid, dass ich dich und Doro zukünftig nicht mehr beschützen kann."
Auch seine Augen wurden glasig, aber der Verletzte hatte noch eine Bitte an seine kleine Schwester: "Es würde mich unendlich glücklich machen, wenn du diesen Pokéball an dich nimmst."

Mit zittriger Hand deutete Marco auf eine hölzerne Kugel auf seinem Nachtkästchen. Elena warf einen Blick in die Richtung, in welche ihr Bruder gezeigt hatte. Ihr kamen nur Fragen und Proteste in den Sinn: "Was soll das sein? Ich will ihn nicht. Ich will, dass du hier bleibst!"
Ihr Bruder ließ sich nicht beirren und drängte darauf, dass sie die Kugel an sich nehmen würde: "Es ist ´ne Erfindung für den Krieg. Damit kann man Pokémon fangen und bei sich tragen. Das Pokémon dadrin ist ´n männliches Dratini, das mich seit ´nem Jahr und auch bei der letzten Schlacht begleitet hat. Ich will, dass du ihn nimmst und dich um ihn kümmerst. War ´ne Heidenarbeit, ihn zu fangen. Wär schade, wenn´s keiner behält."

Mit seinen Worten schaffte Marco nur eines; bei Elena ein schlechtes Gewissen hervorzurufen. Natürlich wollte sie ihrem Bruder diesen Wunsch nicht verweigern und tat ihm den Gefallen. Das Mädchen griff nach der Kugel. Doch in diesem Moment befreite sich Dratini selbst aus dem Pokéball, nachdem es seinen Namen gehört hatte. Der rote Lichtstrahl manifestierte sich neben Elena zu Dratini und so saß am Bett seines Besitzers eine hellblaue Wasserschlange mit weißer Schnauze, weißen Fächerohren und großen lila Kulleraugen.

Marco legte ein Versprechen ab: "Er wird euch beschützen und wenn du mit ihm trainierst, wird er unbesiegbar. Glaub mir, er ist wirklich stark, auch wenn er harmlos aussieht."
Elena blickte in Dratinis Augen. Das Mädchen glaubte, tiefe Traurigkeit darin zu sehen. Ob es tatsächlich so trauerte wie ein Familienangehöriger?

In der Zwischenzeit waren auch Doro und Vater bei Marco angekommen. Die Kleine flehte: "Marco! Du wirst doch wieder, oder? Du musst kämpfen."
Mit müdem Blick sah er auf Doro: "Schätze nur, diesen Kampf kann ich nicht für mich entscheiden."
Es war zu hören, dass er sich aufgegeben hatte. Marcos Stimme wurde immer schwächer.
Angesichts der Trauer, die er bei seinen Lieben spürte, versuchte er ein paar tröstende Worte zu finden, so tröstend ein Sterbender eben sein konnte: "Hey, ich grüße Mama von euch. Denkt ihr nicht, dass sie froh ist, nicht mehr alleine zu sein?“

Marco wandte sich zu Dratini: "Dass du mir schön brav bist und sie beschützt."
Er wandte sich wieder seiner Familie zu: "Vergesst mich nicht." Mit diesen letzten Worten schloss Marco seine Augen für immer.

Pokémon - Ruf der Heimat (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt