16. Die Wanderung gen Süden

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Tristan kroch zum Ausgang der Dunkelhöhle und spitzelte nach draußen. Niemand war hier. Die beste Zeit um aufzubrechen. Seine Sachen waren gepackt.
Doch was tat Elena?
Das Mädchen befand sich noch im Tiefschlaf. Dabei war es fast hell. Wie konnte jemand nur so lange schlafen?
Der junge Mann wandte sich um und tippelte in das Höhleninnere. Wecken wollte er sie nicht. Vielleicht würde sie wütend werden oder denjenigen mit Verachtung bestrafen, der sie aufweckte.
Tristan wusste nicht, wie sie tickte. Er wollte kein Risiko eingehen. Im Schneidersitz setzte er sich auf sein Moosbett und hörte Elena beim Schnarchen zu.
"Herrje... Und die im Waisenhaus im Mehrbettzimmer... Bravo", flüsterte er zu sich.

Bevor das Mädchen erwachte, prüfte der junge Mann den Gesundheitszustand von Arkani. Er holte sein Pokémon aus dem Ball und kraulte es. Der Feuerhund wälzte sich im Dreck.
Sein Trainer mahnte ihn zur Vorsicht: "Pass auf, Kini. Deine Verletzung."
Arkani murrte schuldbewusst auf.
Dieser Laut war es, der die Jugendliche aus dem Schlaf riss. Elena richtete sich auf und blickte hektisch um sich.
"Keine Sorge, das war nur Arkani", beruhigte Tristan mit leiser Stimme.
Sie hielt sich den Kopf: "Wartest du schon lange? ´Tschuldigung. Bin nicht grad dafür berühmt, früh aufzustehen."
Er grinste: "Hab ich gemerkt..."
Elena passte dies gar nicht und verschränkte die Arme: "Was? Was ist so witzig da dran, hä? Weck mich halt auf, wenn´s dir nicht passt."
Ja; Elena war jemand, der einen mit Verachtung bestrafte, wenn man sie aus dem Schlaf riss. Das wusste Tristan jetzt. Zu gerne hätte er sich die Erfahrung erspart.
Der schwarzhaarige Kerl erhob abwehrend seine Hände: "Ist ja gut! Ist doch kein Problem. Pack dich zusammen und wir brechen schnellstmöglich auf, okay?"
Die Jugendliche kroch aus ihrem Schlafsack und rollte diesen in gebückter Haltung auf: "Wie Ihr befehlt, Leutnant Avila."

In dem Moment, als Elena gerade nicht zu Tristan blickte, rollte er die Augen und schüttelte den Kopf. Was hatte er sich da nur angetan? Besser, er wäre mit Kasimir und Valentin über den Eispfad geflüchtet, statt diese Göre zu suchen.
Dann gab es noch eine unangenehme Neuigkeit, die er dem Mädchen verklickern musste.
Der junge Mann holte tief Luft: "Hör mal, ich weiß, dass der schnellste Weg zu deinen Leuten über den Eispfad oder über die Berge im Westen wäre."
Elena senkte ihren Rucksack und warf ihren Blick auf Tristan.
"Aber ich bin mir nicht sicher, inwieweit die Kantonesen das Gebiet rund um Ebenholz bereits abgesichert und besetzt haben."
"Meinst du, dass die uns gleich finden?"
Tristan nickte: "Der sicherste Weg wäre es wohl, nach Borkia zu gehen, dann Rosalia, Viola, Teak, Mahagonia..." Er seufzte: "Ich weiß, dass das ein unwahrscheinlich langer Weg ist. Aber wir sollten nicht riskieren, gefangen genommen zu werden. Auch wenn es dadurch länger dauert."

Ausgerechnet jetzt, wo sie miese Laune hatte, sprach Tristan dieses Thema an. Er hoffte nur, dass sie ihn leben lassen würde.
"Ich bin jetzt ´n gutes halbes Jahr weg von daheim", erwiderte das Mädchen.
Er befürchtete das Schlimmste.
"Ob ich jetzt in fünf Tagen zurück bin oder vielleicht erst in fünf Monaten, ist mir egal. Hauptsache, ich komm nach Haus."
Dass sie so gesittet reagierte, überraschte den jungen Mann; stimmte ihn aber gleichzeitig zufrieden.
Mit erhobenem Zeigefinger merkte Elena an: "Aber da ist eine Sache; ich war nie auf Reisen oder weg aus Ebenholz. Also musst du auch die Reiseführung übernehmen."
Der junge Mann lächelte: "Ich bring dich heim. Zumindest weiß ich grob, wo wir hin müssen."
"Ist ja schon mal ´n Anfang. Dann packen wir unser Zeug zusammen und brechen auf, oder?"
Schulterzuckend deutete er auf seinen gepackten Rucksack.
"Du bist schon fertig? Wie lange bist du denn schon wach? Hallo?"
Angestrengt erhob sich Tristan. Seine Beine waren noch immer schwach. "Eine Stunde vielleicht", keuchte er.
Wie vom Donnerblitz getroffen kreischte sie auf: "Was? Das nächste Mal weckst du mich gefälligst auf, damit das klar ist."
"Ja ja...", sicherte Tristan zu. Als würde er es wagen, sie aufzuwecken...

Hektisch packte das Mädchen auch alle anderen Dinge in den gestohlenen Rucksack; das Zelt, Kleidung, Decken, Essen.
Sie hielt inne, als sie das gerahmte Familienfoto in ihren Händen hielt: "Ich hab damals nicht gewusst, warum du mir das mitgegeben hast. Aber ich bin froh, dass du´s gemacht hast."
"Gern geschehen."
"Wo hast´n das überhaupt her? Bist du in unser Haus eingebrochen oder was?", wollte Elena wissen.
Tristan musste die Frage bejahen: "Irgendwie schon, ja..."
Sie wurde neugierig und fragte weiter: "Wieso? Wieso all der Aufwand?"

Pokémon - Ruf der Heimat (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt