19. Wer hätte das gedacht

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Cecilia stattete ihrem Vater den versprochenen Besuch knapp drei Wochen später ab. In der vergangenen Zeit hatte sie keinerlei Nerv, Isaaks Lügen anzuhören. Sie wollte in Ruhe um ihren Bruder trauern.
So kostete es ihr einiges an Überwindung, ihren Vater zu besuchen. Dies geschah natürlich nicht bei ihm zu Hause, sondern im Büro seiner Fabrik, dem hässlichsten Gebäude der Stadt.
Die schwarzhaarige Lady war auf alles gefasst. Sie erwartete die größten Lügengeschichten. Immerhin war ihr Vater in irgendeiner Weise mit dem Abzug der Truppen verstrickt.
Vor seiner Bürotür hielt sie kurz inne. Ihre Finger bohrten sich vor Anspannung in den Knauf. Sie atmete aus und trat ein.

Isaaks Blick fiel in den Türrahmen und er lächelte: "Oh Cecilia, da bist du ja endlich!"
Unterkühlt warf sie die Tür zu: "Salve Vater. Dein Terminkalender war ja auch ziemlich voll."
Er winkte ab und kam hinter seinem Steineichenholztisch hervor: "Egal jetzt, schön, dass du hier bist."
Zur Verteidigung verschränkte sie ihre Arme: "Also, gibt es einen bestimmten Grund, weshalb ich herkommen sollte, oder willst du einfach so mit mir reden?"
Isaak bat sie, am kleinen runden Tisch im Eck seines Büros Platz zu nehmen. Widerwillig kam Cecilia seiner Bitte nach. Obwohl ihr Vater gerade vor Höflichkeit überströmte, konnte die Lady ihm nicht trauen. Es war nur eine Masche, um sie um den Finger zu wickeln und ihr Vertrauen zu gewinnen.
Wie hätte sie ihm vertrauen können? Noch nie hatte Cecilia verstanden, wie man den Krieg als reines Geschäft sehen konnte. Dachte er nie an all die Opfer, an die Toten und die zerstörten Familien? Sah er wirklich nur den Profit?
Isaak setzte sich zu ihr an den runden Tisch und faltete die Hände: "Ceci, ich will ehrlich mit dir sein. Bevor Ebenholz angegriffen wurde, hat mich Tristan angerufen."
Die schwarzhaarige Lady hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Mit großen Augen starrte sie auf ihren Vater.
Der nutzte ihr Schweigen um weiterzureden: "Er hat mir gesagt, dass er einen Befehl von Hermann vor sich liegen habe, welcher den Abzug der Truppen aus Ebenholz vorschreibt. Verstehst du, was ich sagen will?"
Sie verzog eine Augenbraue in die Höhe: "Hat es bisher nicht geheißen, dass Ebenholz erst während der Angriffe aufgegeben wurde?"
Isaak prüfte den Gesichtsausdruck seiner Tochter: "Du scheinst wenig überrascht darüber zu sein?"
Unbeeindruckt zuckte sie mit den Schultern und log: "Bei unserer politischen Führung wundert mich gar nichts mehr."
Wie ein schüchterner Junge vergrub Isaak seinen Mund hinter seinen Händen: "Um beim Thema zu bleiben; denkst du, Hermann hat die Stadt wissentlich im Stich gelassen?"
Er traute sich kaum, diese Frage offen auszusprechen. Was war nur mit ihrem Vater los?

Cecilia wusste ganz genau, dass er mit dem General zusammenarbeitete und die beiden irgendeinen Komplott laufen hatten. Dass ihr Vater so offen darüber redete, widersprach jedoch ihrer Theorie. Vielleicht sollte sie aber denken, er hätte nichts damit zu tun.
Sie versuchte, nur irgendwie bei Verstand zu bleiben. Ihrem Vater war nicht zu trauen.
Erneut log die junge Frau: "Ich bin nicht sicher, Vater. Für mich macht das Ganze überhaupt keinen Sinn. Ebenholz ist die wichtigste Grenzstadt überhaupt. Statt Soldaten von dort abzuziehen, hätten noch viel mehr dorthin sollen. Kannst du dir irgendeinen Reim darauf machen?"
Auch Isaak schüttelte den Kopf.
Stattdessen erzählte er in sentimentalen Ausschweifungen, wie stolz er auf Tristan und sie wäre: "Und vergiss nie, dass ich dein Vater bin, okay?"
"Wie könnte ich das vergessen...", antwortete Cecilia mit einem zwanghaften Lächeln, ein Seufzen unterdrückend.

Am nächsten Tag saß die schwarzhaarige Lady in ihrem Büro und las die tagesaktuelle Zeitung. Sie hatte keine Idee, was sie weiter tun sollte. Irgendwie musste sie den Komplott doch aufdecken.
Nachdem der Angriff auf Ebenholz in der Öffentlichkeit bekannt wurde, mehrten sich die Proteste gegen die politische Führung. Das Volk war unzufrieden. Zum einen kochte der Unmut über die weggenommenen Pokémon wieder hoch.
Zum anderen waren die Bürger darüber verärgert, dass man Ebenholz den Kantonesen überlassen hatte; und das obwohl der General mit seiner Beschönigung, die Stadt erst während des Angriffs aufgegeben zu haben, aufwartete.
Die Wut auf die Führung konnte Cecilia nachvollziehen. Die Wurzel des Übels lag in dem Pokémon-Einzugs-Dekret. Damals hatte König Raul das letzte Wort. Er hatte durchgesetzt, dass das Dekret erlassen werden würde.

Pokémon - Ruf der Heimat (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt