15. Der echte Feind

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Nach einer benebelten Phase, in welcher Elena nur vor sich hindöste, riss ein Gedanke sie aus ihrem Tagtraum; Tristan! Ob er noch lebte?
Ihr Blick fiel zur anderen Seite der Höhle, wo Arkani neben seinem Herrchen Wache hielt. Er atmete noch immer schwer. An jenem Morgen danach glaubte die Jugendliche nicht daran, dass Ihr Patient überleben würde.
Aber wie konnte sie ihm anders helfen, als ihm Pirsifbeeren als Gegengift zu verabreichen? Irgendwie musste sie den jungen Leutnant am Leben halten. Elena wusste zwar nicht, weshalb sie solche Angst um Tristan hatte, aber den Tod hatte er wirklich nicht verdient.
Nicht zuletzt litt auch sein Arkani unter der Situation. Elena brach es das Herz, als es winselnd neben seinem Herrchen lag.
"Keine Sorge, wir kriegen das wieder hin", versprach die Jugendliche.
Pokémon waren sicherlich dazu in der Lage, es zu fühlen, wenn man sie anlog. Tristan war kaum fähig zu blinzeln oder zu atmen. Und sie? Sie sprach davon, dass sie das wieder hinbekommen würde?
Hoffentlich hasst es mich für meine Lügerei nicht allzu sehr, dachte das Mädchen.

Den ganzen Tag wachte Elena neben Tristan und wartete, ob er auf ihre Behandlung reagierte. Aber es geschah nichts. Wieder kontrollierte sie seine Wunden. Zumindest waren diese noch nicht schwarz oder faul geworden. Zum ersten Mal fiel dem Mädchen eine breite Narbe quer an seinem Hals auf; so als hätte ihm jemand die Kehle durchgeschlitzt.
Leicht verdrehte Elena ihre Augen und winkte ab: "Sowas kann keiner überleben. Aber... irgendwann muss er doch aufwachen."
Mit der Dauer wurde das Mädchen unruhiger. Sie biss sich so heftig auf die Lippen, dass diese zu bluten begannen.
Zu allem Überfluss ging ihr Dragonir mit seiner aufgedrehten Art auch noch auf die Nerven. Es sprang von der einen Seite der Höhle zur anderen und verursachte damit möglichst viel Krach. Elena wusste, dass Trainingsstunde und ihr Pokémon nicht ausgelastet war, aber sie wollte die erste Zeit bei Tristan bleiben.
"Sei still jetzt", ermahnte das Mädchen.
Dragonir ließ sich davon nicht beeindrucken und begann, Arkani zu würgen. Der Feuerhund aber war zu niedergeschlagen, um sich auf dieses Spielchen einzulassen.

Kini hatte den ganzen Tag über nichts gefressen, sodass sich Elena um ihn auch noch Sorgen machen musste.
Sie wollte den Feuerhund zum Fressen ermuntern: "Hey Arkani, es bringt nichts, wenn du neben ihm sitzt und hungerst. Friss Beeren oder was du willst. Wir haben genug."
Arkani aber blickte sie kurz an. Es legte seinen Kopf wieder bei Tristan ab und wartete.
Mit strenger Stimme sprach sie ihre Beschwerde aus: "Wenn er aufwacht und merkt, dass ich mich nicht um dich gekümmert hab, dann macht er mir bestimmt die Hölle heiß! Das ist wirklich mies, dass du nicht kooperierst!"
Selbst das konnte Arkani nicht beeindrucken.
"Du bist echt ´n Mistvieh! Schlimmer als dein Herrchen", kommentierte das Mädchen, ohne zu wissen, ob Tristan so war.
Sie kannte ihn überhaupt nicht. Ihre beiden Begegnungen waren viel zu kurz, als dass Elena etwas über seinen Charakter hätte herausfinden können.

Am nächsten Tag kroch sie aus ihrem Bett auf allen Vieren direkt hinüber zu Tristan um zu überprüfen, ob er schon gestorben war. Seit Marcos Tod war die Jugendliche nicht mehr sehr optimistisch.
Dieses Mal wurde sie jedoch positiv überrascht.
Elena erkannte, wie sich seine grünen Augen erschöpft auf sie richteten. Voller Erstaunen sah sie ihren Patienten an, ihre eigenen Augen immer größer werdend. Er zuckte sogar mit seiner Hand. Ganz leicht öffnete er seinen Mund, um etwas zu sagen.
"Du lebst noch? Arkani, sieh her, er wirds schaffen!", rief Elena aus und schüttelte den Hund aus seinem Schlaf.
Das Feuerpokémon sprang auf und sah seinem Herrchen ins Gesicht.
Tristan hob seine Hand gerade so hoch, dass er Arkanis Vorderpfote streicheln konnte.
Das war für den Hund aber mehr als genug Grund zur Freude. Arkani hechelete und stieß Elena um.
Sie richtete sich wieder auf forderte von Arkani: "Ich bins nicht, die überleben musste. Leb deine Freude bei Tristan aus."
Dann hörte sie ein Flüstern von Tristan: "Er sagt Danke, weil du mich gerettet hast. Und ich auch."

Elena saß im Schneidersitz auf dem Höhlenboden.
Dann beugte sie sich über ihren Patienten und quasselte: "Bitte, gern geschehen. Aber wie geht's dir jetzt? Ich meine... Ich erzähl deinem Hund seit vorgestern, dass du überleben wirst, aber eigentlich weiß ich´s ja auch nicht... Also wär´s schön, ´ne - wie soll ich sagen - ´ne subjektive Einschätzung von dir zu hören... Ich mein, ich steck ja nicht drin in so ´nem vergifteten Körper, ich hab leicht reden."
Was laberst du denn da, fragte sich Elena; fragst du einen möglicherweise Sterbenden gerade, ob er stirbt? Sie klatschte sich ihre Hand auf die Stirn.
Doch Tristan musste wegen ihre Ungehobeltheit grinsen. So schlecht konnte es ihm also nicht gehen.
"Du redest echt viel... Zu deiner Frage; ich weiß nicht, ich hoffe schon, dass es wieder wird", keuchte Tristan.
"Richtig, wer hofft denn nicht, dass er noch ´n bisschen weiterleben darf? Hey, wie sieht´s aus; willst du mehr Pirsifbeeren?", fragte Elena.
Mit einem Nicken gab er sein Einverständnis. 
Wie gehabt zermatschte sie eine Beere und schob sie Tristan in den Mund, wofür sie von ihm einen kritischen Blick erntete.
Sie stellte fest: "Ach ja, richtig; du solltest mittlerweile ja wieder selber kauen können..."
Das Mädchen verzichtete darauf, die Beeren weiterhin zu zerdrücken.

Pokémon - Ruf der Heimat (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt