27. Neue Welten

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Sie spuckte einen Schwall salziges Wasser aus. Unter starkem Husten richtete sie sich auf. Ihre Augen brannten. Die gesamte Kleidung war durchnässt. Die Kälte wurde vom Wind verstärkt und sie fröstelte.
Vor ihr lag das offene Meer. Ihre Hände griffen in feinen weißen Sand. Ihre nassen schwarzen Haare klebten wie Algen an ihren Armen. 
"Wo bin ich und wie bin ich hergekommen?"
Fieberhaft dachte sie nach, wie um alles in der Welt sie hier gelandet ist. Das wichtigste ist ihr dabei aber noch nicht aufgefallen.

Sie hatte komplett vergessen, wer sie war.

Erinnerungen an ihr altes Leben? Fehlanzeige.
Mit zittrigen Beinen erhob sich die schwarzhaarige Lady vom Boden. Auf dem weichen Sand taumelte sie in Richtung Wald, wo sie hoffte, irgendjemanden zu finden. Da sich im Norden und Westen die Berge erhoben, wählte sie den Weg nach Süden.
Der feine weiße Sandstrand zog sich am kompletten Wald entlang, aber immerhin erkannte sie im Dickicht der Sträucher einen Trampelpfad in ihre gewählte Richtung. Der Tag war dunstig und am Strand peitschte der Wind ungebremst auf das Land. Hinter den Palmen hatte die Lady wenigstens ein bisschen Schutz vor der Kälte.
Sie fand Gefallen an dem Ort, wenngleich sie nicht wusste, wo sie überhaupt war. Nach einem Fußmarsch von etwa einer Stunde wurde die Dame ungeduldig. Ihr ging die Kraft aus und sie wollte endlich irgendetwas erreichen.

Nach einer weiteren Stunden nahm die Qual ein Ende. Endlich erreichte sie eine Stadt. Auf dem Ortsschild stand Anemonia.
Ob hier ihr zu Hause war?
Sie blickte in die Stadt, die hauptsächlich aus weißen Fischerhütten aus Holz bestand. Die Türrahmen waren in verschiedenen Farben bunt bemalt. Vor nahezu jeder Hütte fand sich ein Boot und ein aufgehangenes Fischernetz.

Die durchgefrorene Dame folgte dem Weg hinein in die Stadt in der Hoffnung, irgendwoher Kleidung zu bekommen. Was zu essen wäre auch nicht schlecht, denn ihr Magen jaulte. Aber wie sollte sie das anstellen?
Sie hatte kein Geld bei sich. Nur eine hölzerne Kugel hing an ihrem Gürtel. Zumindest hatte sie ein Pokémon, wie auch immer ihr das helfen sollte.

Ziellos lief sie in der Stadt umher, als sie am südlichen Ende die Stadtapotheke erreichte.
Vielleicht hatten die ein Mittel gegen Vergesslichkeit?
Ohne große Erwartungen öffnete sie die Tür und blickte auf die alte Dame hinter dem Thresen, die ihre weißen Haare zu einem Dutt zusammengebunden hat.
Freundlich grüßte die schwarzhaarige Frau: "Salve."
Die alte Dame sah auf die Lady und rief empört: "Ach du liebes bisschen! Bei diesen ungeheuerlichen Wetterverhältnissen geht man doch nicht schwimmen!"
Die junge Frauvzuckte mit den Schultern und gestand: "Ich weiß nicht mal, ob ich schwimmen war. Ich erinnere mich an nichts mehr."
Für diese Aussage erntete sie einen kritischen Blick von der Alten: "Und jetzt braucht Ihr Medizin gegen Eure Vergesslichkeit?"
"Das wäre ein Anfang! Aber ich muss ehrlich sein, ich habe kein Geld", fügte die junge Frau kleinlaut an.
Die Oma bedauerte: "Selbst, wenn Ihr welches hättet, könnte ich Euch wahrscheinlich nicht helfen. Wir sind mit 550 Jahren zwar die älteste Apotheke in Johto. Aber ich fürchte, gegen Eure Art der Amnesie habe auch ich keine Medizin auf Lager."
Die junge Frau verneigte sich: "Verstehe, ein Versuch war es wert, ich danke Euch."
Gerade wollte sie zur Tür hinaus, als sie von der Oma aufgehalten wurde: "Halt, Moment! Wo wollt Ihr hin?"

Die Lady wandte sich um: "Ich will Euch nicht weiter zur Last fallen, schließlich kennen wir uns nicht."
Die weißhaarige Dame grinste herzlich: "Ach liebes Ding, aus Eurer Sicht kennt Ihr gar keinen. Also müsste Euch niemand helfen. Und wo solltet Ihr in Eurem Zustand groß hin?"
Die Alte kroch sogleich hinter der Theke hervor und fasste die junge Besucherin am Arm. Einmal ums Haus herum gelangten die beiden in die Wohnung der alten Dame. Die Oma gab der Jungen Wechselklamotten, setzte Tee auf und kochte eine Suppe.

Die junge Lady verneigte sich am Tisch: "Ich danke Euch aus tiefstem Herzen. Ich weiß, Ihr hättet das nicht tun müssen und zeigt doch eine solche Großzügigkeit."
Die Alte winkte ab: "Ihr habt es verdient, dass man Euch hilft. Immerhin habt Ihr gleich gesagt, kein Geld für Medizin zu haben. Das ist wahrhaft aufrichtig. Außerdem habt Ihr ein Pokémon bei Euch. Ihr hättet mich also auch jederzeit angreifen können, um das zu bekommen, was Ihr braucht."

Die schwarzhaarige Lady empörte sich: "Das ist grausam! Sowas macht man doch nicht!"
Die Alte zwang sich zu einem traurigen Lächeln: "Ist alles schon vorgekommen. Nie waren es Anemossen. Immer Fremde. Euch habe ich hier noch nie gesehen, also seid Ihr auch eine Fremde. Aber keine böse Fremde."
Die junge Frau nickte wortlos. Dazu konnte sie keine Angaben machen, denn sie wusste natürlich auch nicht, aus welcher Stadt sie war..
Die schwarzhaarige Lady wollte mehr erfahren: "Wie heißt Ihr eigentlich?"
"Ich bin Barbara", antwortete die Alte und fuhr fort: "Wollt Ihr Euch auch einen Namen geben?" "Hm, ich fand Isabella immer ganz schön", antwortete die junge Frau, welche sich soeben selbst getauft hatte.

Mit einem Lächeln sprach die Alte ihre Einladung aus: "Schön, Isabella, du kannst solange hierbleiben, wie du willst, das ist kein Problem"
Voller Tatendrang ballte Isabella die Faust: "Im Gegenzug will ich dir helfen, egal ob hier im Haushalt oder in der Apotheke oder sonst was. Gib mir was zu tun und ich unterstütze dich."
"Mein Mann kommt eh erst spät von einer Seereise zurück. Ich denke, ich kann deine Hilfe gut gebrauchen", nickte die Oma und fügte an: "Da fällt mir ein; willst du dein Pokémon nicht rauslassen und ihm auch was zu fressen geben? Wenn es ihm so geht wie dir, kann es eine Mahlzeit vertragen."
Die Abgemagerete nahm ihren Ball vom Gürtel und ließ ihr Pokémon raus. Der Boden ächzte unter dem Gewicht des Pokémons, welches zum Vorschein kam.
Mit leuchtenden Augen bewunderte Isabella das Wesen: "Wow, ich hab ein Rizeros?"
Die Alte war erstaunt: "Erinnerst du dich nicht mal an dein Pokémon?"
Die schwarzhaarige Lady schüttelte den Kopf: "Ich erinnere mich an gar nichts."

Rizeros hingegen freute sich, seine Trainerin wiederzusehen und quetschte sie in eine Umarmung.
"Hast du überhaupt genug Essen für uns beide hier? Ich meine, ein Rizeros ist jetzt nicht leicht satt zu bekommen", fragte Isa, während sie ihr Pokémon streichelte und es umarmte.
Barbara winkte ab: "Ums Futter brauchst du dir keine Gedanken machen. Auf Anemonia haben wir Glück mit dem Klima, sodass das ganze Jahr über alles wächst."
Die junge Trainerin flüsterte leise ihrem Pokémon zu: "Wie hab ich dich nur bekommen? Und was ist passiert?"

Lange blickte sie ihr Rizeros an. Isabella glaubte, dass es irgendetwas damit zu tun hatte, weshalb sie jetzt hier auf dieser Insel war. Aber ihre Erinnerungen waren wie hinter einem Vorhang. Alles war nur vage und konnte frei interpretiert werden.
Barbara suchte währenddessen in einem Regal ein Buch heraus und wurde dabei schnell fündig.
Sie brachte den dicken Wälzer mit zum Esstisch und schlug das Inhaltsverzeichnis auf: "Ich hab momentan zwar keine Medizin auf Lager, aber ich bin sicher, dass es gegen deine Amnesie etwas gibt."
Sie blätterte auf eine bestimmte Seite und las vor: "Persimbeere, Einsatzgebiet: Verwirrung und in vereinzelten Fällen Amnesie. Fundorte: die Beere liebt das Sonnenlicht, daher finden sich deren Sträucher häufig auf der freien Ebene. Anwendung: Beere in roher Form direkt vom Strauch oder in getrockneter Form als Pulver verabreichen."

"In vereinzelten Fällen auch bei Amnesie? Das muss ich versuchen", beschloss Isabella und fragte: "Weißt du, ob hier auf Anemonia diese Beeren irgendwo zu finden sind?"
Barbara antwortete: "Unten am Strand sicher nicht, dort ist der Wald zu dicht. Aber im Westen geht es ins Gebirge, wo es an kahlen Stellen so gut wie keine Pflanzen gibt. Möglicherweise wachsen dort die Beeren. Oder du suchst direkt auf der Hochebene."
Im Moment hörte sich dies alles zu anstrengend an. Extreme Schwäche überkam Isabellas Körper, weswegen sie entschied, erst am nächsten Tag aufzubrechen und nach dieser Persimbeere zu suchen.
Sie war der alten Dame sehr dankbar, dass sie sie bei ihr wohnen ließ und ihr ein Bett zur Verfügung stellte. Isabella bekam auch noch trockene Kleidung, wenngleich ihr diese nicht ganz passten. Aber darauf legte sie keinen Wert.

Völlig erschöpft schlief die schwarzhaarige Lady früh an diesem Tag ein. Ihr Unterbewusstsein erlaubte es sich, mit ihr zu scherzen und bruchteilhafte Erinnerungen in ihren Traum einzubauen. In einem Fetzen sah sie, wie sich die Sonne über ihr verdunkelte und sie nach oben blickte, aber nichts erkannte.
Sie wollte an die Wasseroberfläche schwimmen, aber ein Strudel zog sie nach unten und schnürte ihr die Luft ab.
Schlagartig erwachte Isabella aus ihrem Traum. Sie griff sich an die Kehle, um das Gefühl der Atemlosigkeit zu bezwingen. Was hatte das alles nur zu bedeuten?

Wer hats erkannt? :D
Ich hoff, die Überraschung ist gelungen.
Jetzt dürft ihr rätseln, wie sie da rausgekommen ist^^

Pokémon - Ruf der Heimat (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt