Katherine
Das Zöpfchen, das ich um meinen Finger wickle, ist verfilzt. Ich weiss, dass ich es nie mehr aufbringen werde. Früher oder später werde ich meine Haare abschneiden müssen. Und damti das Einzige, was mich noch an Zuhause erinnert, abtrennen.
Es ist mir egal. Ich habe nichts mehr, was mich zurückzieht. Niemanden mehr, der dort auf mich wartet. Die Leute, für die ich mein ganzes Leben lang eingestanden bin, haben mir nicht nur Gianna genommen, sondern auch Lucas.
Ich balle die Fäuste und beisse die Zähne zusammen. Der Gedanke an meinen Bruder zerquetscht mein stürmisches Herz. Tage sind vergangen, seit Cassius in der Flamme gewesen ist, und doch hat sich meine Seele kein bisschen von der Nachricht erholt. Lucas ist tot. Und ich bin schuld. Genau so, wie ich Gianna habe sterben lassen, habe ich auch Lucas im Stich gelassen. Mit jedem Tag wird mir bewusster, was ich getan habe. Und dass ich es nie wieder gut machen kann.
Etwas hat sich in mir geändert. Tief im Innern, da wo alle meine Werte verankert sind. Ich kann die Veränderung förmlich in meinem Puls spüren, der kaum mehr eine normale Geschwindigkeit annehmen will.
Ich hasse. Zum ersten Mal in meinem Leben erfahre ich, was purer Hass ist. So pur, wie die Gedanken eines Kindes, so pur wie das Zwitschern unschuldiger Vögel. So rein wie das Wasser der natürlich erhaltenen Quellen. Ich hasse die Menschen, die mir alles weggenommen haben so sehr, dass es wehtut. Die Regierung, die immer mein Ideal verkörpert hat, hat mich schamlos verraten. Nie zuvor habe ich etwas gekannt, das meinen Hass so sehr verdient hat.
Energielos und dennoch furios schaue ich über die Ebene vor mir. Ich bin am Rande der Flamme, wo mich keiner sehen kann. Aber ich bin nicht mehr in Versuchung, wegzurennen. Ich bleibe. Die einzigen Menschen, mit denen ich nun wenigstens etwas teile, sind zu meinen stärksten Verbündeten geworden. Niemand will die Regierung so sehr zerstören, wie die Funken. Das – und nur das – gibt mir die Kraft, weiterzumachen. Mein Bestes zu geben und unserem Ziel mit jedem Tag ein wenig näher zu kommen.
Das Metall des Gewehres in meiner Hand ist von der Sonne erwärmt und die polierte Oberfläche glänzt im Abendlicht. Die Ebene vor mir bleibt leer. Wäre ich nicht sowieso so abgelenkt, würde mich die Einöde vor mir zu Tode langweilen. Als mir Ernesto den Wachdienst am östlichen Ende aufgetragen hat, ist mir nicht bewusst gewesen, dass er noch zu meiner Strafe gehört.
Ich lasse das Zöpfchen fallen und fahre mit einem Finger über einen dicken Kratzer an der Seite meiner schwarzen Waffe. Was sie wohl miterlebt haben muss, um so einen Kratzer zu bekommen?
Als mein Blick wieder rauf und über die Ebene wandert, bleibt mein Blick einen Moment lang am Horizont hängen. Je länger ich darauf starre, desto sicherer bin ich mir, dass da tatsächlich ein dunkler Punkt immer grösser wird. Bewegt er sich auf uns zu, oder dem Horizont entlang? Der Punkt ist so klein, dass ich seine Bewegung kaum wahrnehme.
„Ernesto?", frage ich vorsichtshalber ins Funkgerät, das mir mein Vorgänger übergeben hat. Das Rauschen des Geräts wird fast augenblicklich von der Stimme unseres Anführers unterbrochen.
„Wer meldet sich?", fragt er leicht gereizt.
„Katherine. Gibt es am östlichen Rand manchmal Patrouillen aus der Stadt? Oder führt einige Kilometer entfernt eine Strasse durch?"
„Negativ, zweimal. Siehst du was?", meldet er sich nun aufmerksamer zurück. Das Funkgerät knackt.
„Da ist etwas am Horizont", antworte ich. „Ein Punkt, der – glaube ich – auf uns zukommt."
„Warte", sagt er bevor die Verbindung mit einem Knacken abbricht. Die Zeit vergeht wahnsinnig langsam und ich werde immer aufgeregter, weil der Punkt nun deutlich grösser wird.

DU LIEST GERADE
Fehlerhaft - Bist du das Leben wert?
Ciencia FicciónEs ist kein Geheimnis: Die Ressourcen sind begrenzt. Wasser, Erdöl, Kohle; all das wird irgendwann ausgehen, womöglich schon bald. Aber wie soll man dann eine stetig wachsende Bevölkerung versorgen? Nun, es gibt nur eine Lösung, die auf längere Z...