Zehntes Kapitel

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Lance

So schnell mich meine Füsse über den harten Boden tragen, jogge ich den Rundgang ab. Ich habe vielleicht nicht den schnellsten Kopf, aber meine Beine sind stärker als die meisten anderen.

Marleen scheint es ernst zu meinen. Und ich darf keine Zeit verlieren. Die Neuigkeit muss zu Ernesto getragen werden, damit er die Inneren Funken zusammentrommeln kann. In der Hitze ringe ich nach der stinkenden Luft, die so trocken ist, dass beim Ausatmen Staub aus meiner Nase entweicht. Mein Bandana hängt mir brettig trocken um den Hals, da ich durch den Stoff nicht genug Sauerstoff bekomme.

Meine Füsse donnern schneller auf den Stein als mein Herz in meiner Brust schlägt. Die Pilotenbrille auf meiner Nase droht bei meiner verschwitzten Haut zu verrutschen. Ich schiebe sie während dem Rennen zurück auf die Nase.

Ich muss Ernesto erreichen, so schnell es geht. Mein einziger Wunsch ist es, die Regierung zu zerstören. Das haben wohl alle Funken gleich. Die Rebellion hat es sich zur Aufgabe gemacht, unseren Staat von Innen zu zerstören. Auf der nie anhaltenden Suche nach neuen Anhängern der Rebellion sind wir aber irgendwo hängen geblieben. Seit Monaten ist nichts Signifikantes mehr passiert, weshalb die Neuigkeit ganz besonders wichtig ist.

Mein Hass gegen die Regierung wird mit jedem Tritt auf die harte Unterfläche geschürt. Wir Funken kämpfen für die Menschheit. Wir kämpfen für das Recht auf Leben. Wir kämpfen dafür, dass jeder Mensch seinen Weg finden darf – ob natürlich oder im Labor geboren. Und dies ist vielleicht unsere Chance, unser Ziel endlich zu erreichen.

Ich habe schon immer in der Flamme gelebt, an ein Leben davor kann ich mich nicht erinnern. Schliesslich wurde ich als Säugling hierher gebracht. Deshalb habe ich die Stadt auch noch nie wirklich erlebt. Ich habe sie gesehen, klar, und ich habe sie auf Touren durchquert. Aber ich bin nie ein Bewohner davon gewesen. Genau das ist wohl meine Stärke: Ich habe keinerlei Liebe oder Zuneigung für die kargen Gebäude oder die seelenlosen Wesen, die darin leben. Ich will die Menschlichkeit auf der Erde zurück gewinnen.

Voller Elan halte ich nach Ernesto Ausschau, und renne die Strecke ab, die er mit jedem Neuankömmling hinter sich legt.

„Ernesto", rufe ich ausser Atem, als ich den blonden Haarschopf nahe der Waschstation erkenne. Unser Anführer dreht sich sofort überrascht um.

„Lance", kommt er einige Schritte auf mich zu. Ich halte nicht an, bevor ich direkt vor ihm stehe. Auch Noe und Katherine haben sich mittlerweile umgedreht. „Was ist passiert?"

„Mar- Marleen", keuche ich hastig.

„Was ist mit ihr?"

„S-sie ha-hat eine Nachri-ri-richt abgehört, d-die d-du mit de-den Inne-neren Funk-k-ken bespre-e-echen sollte-test." Mein Stottern ist der Aufregung wegen noch viel schlimmer als normalerweise.

„Was für eine Nachricht?", reisst Ernesto seine Augen auf.

„Die La-labo-bore betref-ff-fend. An-anscheinend-end wird i-in zwei-i Tagen der Vor-vor-vorrat via Lastwa-wagentra-transpo-port aufgestockt." Ich atme einmal tief durch und stemme meine Fäuste in die Hüfte. Mein Oberkörper krümmt sich wegen des fehlenden Sauerstoffs leicht. „Mar-marle-leen ha-hat die Rou-ou-oute aufge-ge-gezei-zeichnet. Das i-ist ge-genau, wo-worau-auf wir ge-gewa-wartet ha-haben."

Ernestos Augen werden noch grösser – wenn das überhaupt möglich ist.

„Wo ist sie jetzt?"

„D-die Inner-r-ren Fun-funken tre-treffen sich i-in ihrer-er Werk-kstatt. Tre-evor i-ist schon do-dort, i-ich bi-bin noch a-a-auf dem We-weg z-zu Leo u-u-u-und Kai."

„Gut", erwidert er nur. „Danke. Hole die beiden Anderen bei ihren Stationen ab. Und beeile dich. Dieses Mal müssen wir schneller sein."

Ich nicke. Während er sich wohl für eine Entschuldigung zu den beiden Anderen umdreht, mache ich auf dem Absatz kehrt. Dann atme ich einmal tief ein und nehme sofort wieder ein schnelleres Tempo auf. Mein Shirt ist schon fast gänzlich nass, aber momentan ist das egal. Schliesslich bin ich nicht ohne Grund der Kurier der Funken.

Ich bin nicht nur am schnellsten, sondern habe auch die beste Ausdauer. Für eine schnelle Ablieferung von Informationen – und das möglichst leise – sorge ich schon seit ich siebzehn bin. Die Funkgeräte, die wir am Anfang verwendet haben, waren zu verräterisch und konnten von der Regierung relativ schnell geortet werden. Und Pfeifen hat sich als zu laut herausgestellt, sodass wir nun seit drei Jahren meine Beine als Nachrichtenüberbringer verwenden.

Während ich zur Farm jogge, atme ich möglichst regelmässig. Wie gerne hätte ich jetzt auch nur einen einzigen Schluck Wasser. Bei meinen trockenen Lippen und meiner hechelnden Lunge würde ich dieses glatt aus dem stinkigen Bach trinken.

Unsere improvisierte kleine Farm beherbergt nur eine Handvoll Tiere. Da wir kaum Fleisch haben, helfen uns einige wenige Verbündete aus der Stadt mit zusätzlichen Lebensmittellieferungen. Diese selber bringen sich aber dadurch so in Gefahr, dass wir monatlich höchstens eine Lieferung erhalten. Meistens handelt es sich bei den Esswaren um weiteres, getrocknetes Fleisch oder Büchsengemüse. Selbst wenn wir die Vorräte gut aufteilen, reichen sie für unsere ganze Gruppe höchstens einige Wochen. Darum leben wir meistens von den Tabletten. Das Fleisch hält uns aber wenigstens minimal bei Kräften.

Schnell schlüpfe ich durch den zerbrochenen Eingangsbogen in eines der einzigen relativ gut erhaltenen Gebäude. Im Innern begrüsst mich der Gestank lebendiger Tiere.

„Kai", rufe ich mit bebendem Herzen. Das Blut pulsiert in meinen Adern und Feuer brennt unter meinen Füssen.

„Ich bin hier", erwidert eine Stimme aus einem hinteren Raum. Dem Schlachthaus.

„Du wi-wi-wirst ge-gebraucht, be-be-beeil di-dich. Die Inne-ne-neren Funken tre-treffen si-sich."

„Was?", stösst er sofort aus und erscheint im Durchgang. Ich habe meine Arme inzwischen auf meine Knie gestemmt, so dass ich ihn von unten herauf anschaue.

„Be-beeil dich", wiederhole ich keuchend, woraufhin er den Knoten seiner dreckigen Schürze sofort löst.

„Endlich", stösst er voller freudiger Erwartung aus. „Darauf habe ich lange genug gewartet."

Im nächsten Moment stürmt er an mir vorbei nach draussen. Ich schiebe entkräftet ein improvisiertes Gitter vor den Eingang, sodass die Tiere nicht entfliehen können.

Noch eine Strecke. Dann kann ich wieder atmen.

Nachdem ich meine Augen kurz geschlossen habe und tief durchatme, sprinte ich zum letzten Mal los. Leo.

Ein Lastwagentransport ist in unserer Zeit des Luftverkehrs so selten, dass die Funken die Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen können. Seit Jahren haben wir keine Lieferung in die Stadt boykottieren können, da sie normalerweise mit Flugzeugen erfolgen. Was auch immer der Grund für diese besondere Lieferung ist: Endlich entfacht sich unser Feuer.


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Eine Mitautorin von "Fehlerhaft" hat sich gewünscht, dass wir mit dem Buch an einigen Wettbewerben mitmachen. Darum darf ich euch voller Freude verkünden, dass unser gemeinsames Werk am Celestial Award 2018, an den Golden Book Awards 2018 und dem Blue Roses Award teilnimmt. Ich bin immer offen für weitere Wünsche und Vorschläge, also immer her damit. Sobald die Votingphasen beginnen, lasse ich es euch wissen.

Fehlerhaft - Bist du das Leben wert?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt