Katherine
Meine erste Woche in der Flamme ist, als würde ich noch einmal geboren werden. Es gibt nichts, das so bleibt, wie ich es gewohnt bin. Ich lerne etliche neue Gesichter kennen und doch niemanden richtig. Ich weiss, dass mir niemand hier etwas antun wird, vertraue trotzdem niemandem. Mein Kopf weiss, dass ich hier bleiben muss, aber mein Herz zieht mich zurück zu meiner Familie.
Ich gliedere mich zwangsläufig in die kleine Gemeinschaft der Flamme ein. Nach den ersten zwei Tagen kriege ich eine Aufgabe, den Tag darauf helfen mir zwei Funken namens Trevor und Jules, einen stabilen Unterschlupf zu finden. Seit zwei Tagen werde ich zudem zusammen mit Rita in die Kampfkunst eingeführt. Obwohl Roscoe diese Funktion übernommen hat und uns das Schiessen und den Nahkampf lehrt, werden meine Augenringe von Tag zu Tag dunkler.
Auch die anderen Funken scheinen nach dem missglückten Versuch, die Lastwagen der Regierung zu zerstören, irgendwie erniedrigt. So, als hätten sie eine Ewigkeit auf den einen Tag hintrainiert und gehofft, der schliesslich überhaupt nicht nach Plan gelaufen ist. Ehrlich gesagt ist mir das ziemlich egal. Genau wie die Funken an sich.
Sobald die erste Aufregung über mein neues Leben verflogen ist, habe ich angefangen, die wirklichen Fehler der Leute hier zu entdecken. Manche haben körperliche oder geistige Störungen. Aber die wahre Fehlerhaftigkeit der Rebellen liegt in ihrem Denken: Denn sie alle glauben, das Richtige zu tun. Sie alle können null Verständnis für die Stadtbewohner aufbringen. Und das ist es, was mich grundsätzlich und unveränderbar von ihnen unterscheidet.
Dass ich hier gelandet bin, verunsichert mich. Kann mein Virus wirklich so schlimm sein, dass ich ein Leben hier verdient habe? Mein ganzes Leben lang habe ich der Regierung nichts als gedient. Um dann doch bei den Verstossenen zu landen, gar zu ihrer Gemeinschaft zu gehören.
Seit Tagen kann ich keinen intelligenten Gedanken mehr zustande bringen. Selbstzweifel drängen sich an mein Herz und halten es fest umschlossen. Bin ich auch so wie diese Menschen? Ist mein Kopf auch wirr, meine Gedanken unrein? Wüsste ich das, wenn es so wäre?
Während ich mit dem Rucksack auf dem Rücken nach Kräutern suche, versuche ich mit dem abwechslungsweise wohltuenden Geruch des Holzes um mich herum meine Gedanken zu verdrängen. Meine Aufgabe hätte wohl schlimmer ausfallen können. Ernesto hat mich dazu eingeteilt, mit einigen anderen Funken die nahen, halb dürren Wälder nach Kräutern und einigen heilenden Pflanzen abzusuchen. Ausserdem bringen wir wann immer möglich Beeren oder essbare Wurzeln in die Flamme. Da ich gerade alleine unterwegs bin, höre ich die Vögel hoch oben in den kargen Baumkronen zwitschern. Selbst die friedliche Melodie kann mein Gemüt nicht aufheitern.
Ich bin verloren. Bei diesen Leuten, die die Welt so völlig anders sehen, bin ich absolut verloren.
Achtlos schiebe ich ein halb verfilztes Zöpfchen hinter mein Ohr. Inzwischen sehe ich selber wohl wie eine Wilde aus. Seit Tagen habe ich keine Seife mehr brauchen können und meine Haare sind bei den Rebellen sowieso zum Verfilzen verurteilt. Ausserdem knurrt mein Magen unaufhörlich und meine untersten Rippen drücken sich schon gegen meine dunkle Haut ab.
„Katherine", ruft jemand vorsichtig nach mir. Bei den Funken ist man grundsätzlich nie laut – das habe ich schon früh gelernt.
„Was?", frage ich die sehr kleine Sel, die zwischen den Bäumen erscheint. Sel ist einer deren Funken, die geistig nicht ganz fit sind. Sie hat mindestens genauso dunkle Augenringe wie ich, und das bei ihrer fast weissen Haut. Ich weiss nicht genau, was sie hat, aber es scheint sie vom Schlafen abzuhalten.
„Wir müssen uns auf den Heimweg machen", erklärt sie mit zittriger Stimme. „Dein Unterricht bei Roscoe fängt in einer halben Stunde an."
Ich nicke nur und schreite geschwind zu ihr. Im nächsten Moment befinden wir uns auf einem schmalen Pfad, dem wir ein Stück weit folgen können. Neben mir rauscht das wilde Grün, das die zerstörende Kraft der Menschen überlebt hat. Ich kann den Pflanzen zwar nicht Namen geben, weiss aber, dass sie alle künstlich generiert wurden. Nur eine Handvoll natürlicher Pflanzen haben den Klimawandel und uns Menschen überlebt, da die meisten zu wenig resistent sind.
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Fehlerhaft - Bist du das Leben wert?
Ciencia FicciónEs ist kein Geheimnis: Die Ressourcen sind begrenzt. Wasser, Erdöl, Kohle; all das wird irgendwann ausgehen, womöglich schon bald. Aber wie soll man dann eine stetig wachsende Bevölkerung versorgen? Nun, es gibt nur eine Lösung, die auf längere Z...