Willow
Nach der Aufregung am Nachmittag hocken am Abend alle Funken zusammen im Hauptgebäude. Die Holzbänke und mächtigen Tische sind bereits an den Rand verschoben worden und fast alle Funken haben sich im Keller auf den Boden gesessen. Vor mir giesst sich Sel eine grosse Tasse warme Milch ein. Auch ich greife zum Krug und fülle zwei Tassen halb auf. Der Dampf riecht so ungewohnt süss, dass mir das Wasser im Mund zusammen läuft.
„Kann ich auch was haben?", fragt eine junge Stimme, als ich mich schon umgedreht habe. Vor mir steht Noe und schaut mich mit grossen Augen voller Erwartung an.
„Dann musst du dich aber hinten anstellen", lächle ich zuversichtlich. „Keine Angst, es hat für alle was."
Unser jüngster Funke verschwindet sofort. Im Kerzenlicht sieht er noch magerer aus, als er es eigentlich ist. Vorsichtig balancierend durchquere ich den Raum mit den beiden Tassen in meinen Händen. In der hintersten Ecke sitzt Katherine ganz allein. Sie hat ihre Beine angezogen und starrt abwesend vor sich hin. Ich weiss zwar nicht genau, was vorgefallen ist, habe aber Cassius' Anwesenheit in der Flamme nicht verpasst. Bestimmt hat sie erniedrigende Nachrichten erhalten.
Wortlos gehe ich vor ihr in die Hocke und halte ihr eine der dampfenden Tassen hin. Ihre Augen nehmen mich zwar wahr, sind aber ausdruckslos. Sie macht keinen Wank.
Nach einer Weile stelle ich das heisse Getränk neben ihr ab und lasse mich neben sie an die Wand sinken. Dann nehme ich einen Schluck der heissen Flüssigkeit und schliesse die Augen. Die Milch ist süss und geruchlos zugleich. Einfach himmlisch.
Ich möchte Katherine gerne trösten, möchte ihr sagen, dass es das Leben zu leben wert ist. Möchte ihr versichern, dass alles wieder gut wird. Aber das kann ich nicht. Deshalb sitze ich still neben ihr und versuche, auf irgendeine Art ihr Leid aufzuteilen, sodass sie nur noch die Hälfte ertragen muss.
„Shh", ertönt es schliesslich von allen Seiten und auch die letzten Funken setzen sich in den Kerzenschein. Im Keller herrscht absoluter Frieden, auch wenn die Herzen vom Nachmittag noch heftig rebellieren.
„Ernesto, singst du uns was vor?", fragt Noes kindliche Stimme in die Stille. „Bitte."
Unser Anführer ist der Einzige, der noch steht. Sogleich begibt er sich in die Mitte des Raumes zum kleinsten Funken und lässt sich bei ihm nieder. Dann zerzaust Ernesto ihm die Haare, woraufhin der kleine ein helles Lachen von sich gibt. Ich lehne den Kopf an die kühle Mauer. In Momenten wie diesen ist die Flamme das schönste Zuhause, das man haben kann.
Ernesto fängt gedämpft an zu summen. Der Klang wird lauter und lauter, bis er den ganzen Raum erfüllt. Die Atmosphäre und der friedliche Klang seiner wunderschönen Stimme bereiten mir eine Gänsehaut. Ich schliesse meine Augen.
„Du warst niemals fort, hast mich immer begleitet", fängt Ernesto an zu singen. „Meinen Füssen einen ebenen Weg bereitet. Ich schaute immer nach dem Licht im Dunkel, doch erst mit dir kam das Sternengefunkel."
Seine Worte erklingen eines nach dem anderen und schmelzen doch so ineinander, dass es ein ganzer Chor nicht hätte schöner singen können. Schliesslich öffne ich meine Augen wieder und schaue Ernesto sehnsüchtig zu, wie er Noe in den Armen wiegt. Sein Profil erscheint im Kerzenlicht beinahe elfenhaft, seine dunkelblonden Haare sitzen wie eine Krone auf seinem fast durchsichtigen, zerbrechlichen Körper. Meine Wangen werden augenblicklich warm.
Die Atmosphäre ist magisch. Im Raum herrscht absolute Stille, niemand bewegt sich. Der Moment ist zu schön.
Mein Blick wandert langsam über die Menge, die zu meiner Familie geworden ist. Über Trini, die ihren Keller am Anfang mit mir geteilt hat. Über Chase, der mich auf meine erste Erkundungstour mitgenommen hat. Und schliesslich über Ernesto, dem mein Herz schon seit unserem ersten Treffen gehört.
In einer Ecke sitzt ausserdem Nathalia in Roscoes Armen. Traurig schaue ich den beiden zu, wie sie die Ruhe und Zweisamkeit geniessen. Ein schmerzhafter Schlag trifft mein Herz, als ich erneut begreife, dass ich so was wohl nie haben werde. Auch wenn ich stolz auf meine Sexualität bin, wird sich Ernesto bestimmt nie in mich verlieben. Das ist der einzige Grund, weshalb ich mir manchmal wünsche, als Mädchen geboren worden zu sein.
„Sag mir, wo wir hingehen, sag mir, was aus uns werden wird. Wir halten zusammen, egal was auch passiert."
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Fehlerhaft - Bist du das Leben wert?
Ficção CientíficaEs ist kein Geheimnis: Die Ressourcen sind begrenzt. Wasser, Erdöl, Kohle; all das wird irgendwann ausgehen, womöglich schon bald. Aber wie soll man dann eine stetig wachsende Bevölkerung versorgen? Nun, es gibt nur eine Lösung, die auf längere Z...