Gedankenfall

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Niemand in meinem Umfeld, meiner Atmosphäre, meiner unbeschienenen Welt bemerkt, wie es mir im Innern ergeht.
Wie sollte man auch? Ich verdränge es, versuche stärker als der Tornado meiner Gefühle zu sein und lasse es nicht zu, dass die inneren Stimmen ausbrechen und Unheil in meine heile, kleine Welt bringen, in der alle denken ich befände mich.
Es ist unfassbar schmerzvoll und beraubend, wie leicht und unbekümmert die mich angeblich liebenden mit meiner Existenz umgehen. Obwohl ich doch zu ihnen gehöre, ein Teil von ihrem täglichen Leben und dasselbe Wesen bin, werden schalldichte Mauern um meine Gestalt herum errichtet.
Ich werde absichtlich eingesperrt und an einem raumlosen Ort festgehalten; dort, wo mich keine Menschenseele schreien hören kann. So paradox es doch scheint, es lässt sich nicht verneinen, dass ich in die Einsamkeit entlassen wurde.
Niemand macht sich die Mühe, mir den Weg zu versperren und mir dabei behilflich zu sein, die anhänglichen Barrieren von mir zu stoßen. Im Reich der Gedanken sind sie zwar bei mir und fragen sich, warum ich mich so merkwürdig, seltsam, gereizt, träge, lustlos oder abneigend verhalte.
Fragen zu stellen ist keine Kunst, aber auf die Suche nach Antworten zu gehen... Dies scheint nicht von dieser Welt und deshalb unmöglich zu bewältigen zu sein.
Die Suche reicht nicht weit, denn sie endet beim Auferstehen der Ungewissheit. Die Fragenden ballen sich zur kritischen und von Sorge zerfressenen Einheit zusammen, verachten dein bloßes Sein, um ihrer Pflicht und Aufgabe entgehen zu können. Ihrer Aufgabe, sich auf die Suche nach Antworten zu machen. Jeder von ihnen sucht vergeblich nach dem notwendigen Fünkchen Verstand bei den Gleichgesinnten, ohne sich dem eigentlichen Grund für das Zustandekommen der Fragen zu nähern.
Ohne sich demjenigen Menschen zu nähern, der innerlich zu verwesen beginnt und in die Tiefe sinkt. Mich.
Niemand wagt es auch nur, mich auf das Wesentliche anzusprechen, mir in die leeren Augen zu blicken, das von Lebendigkeit verlassene Gesicht unter der Maske zu erkennen und mit unverhohlenem Entsetzen auf die verdeckten, selbstverschuldeten Narben zu reagieren. Niemand entscheidet sich dafür, den wandelnden Grauen wieder aus dem Jenseits, der Welt zwischen Leben und Tod, zu zerren. So soll es mit recht sein, wenn es niemanden kümmert.
Geduld war der Sauerstoff, den ich zum Leben brauchte, der meinen wandelnden Körper mit genug Nährstoffen versorgte.
Diese Geduld entschwand mir mit fortschreitender Zeit und nun schweigt mein Körper nur noch in der Stille vor sich hin.
Im Jenseits befinde ich mich längst nicht mehr, denn ich ziehe immer weiter, bleibe nie an einem Ort stehen, wo mich jemand aufhalten könnte weiterzugehen.
Ich laufe immer weiter und weiter, ohne einen Blick auf das Hinterlassene zu werfen.
Wenn jemand deine Anwesenheit nicht schätzt, dann lass ihn deine Abwesenheit spüren. Dies ist mein Motto für den Weg, zu dem ich mich entschieden habe entlangzuschreiten.
Der Tod rief mir von seiner Seite aus zu, es würde mir bei ihm besser ergehen. Es war das allererste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit, dass eine Stimme, die nicht mir selbst gehörte, zu mir sprach.
Das erste und letzte Mal in diesem Leben.
Diese Stimme war alles, woran ich mich mit tief ersehnter Erlösung und einem reinen Gewissen klammern konnte. Ich brauchte nicht mehr an all die Menschen zu denken, denen weder mein Sein oder mein Nicht-Sein auffallen würde. Aus diesem Grund ließ ich mich von den Worten betäuben und konnte endlich meine längst ausgeschöpfte Lebendigkeit hinter mir lassen.
-Der Leid und Schmerz, die Erleichterung und mein von Sehnsucht befallenes Herz, befreit von dem Elend meiner Persönlichkeit und nun völlig unbeschwert, gleitet meine Seele nach Frieden ringend, und nicht mehr nach Aufmerksamkeit ringend, hinauf in das Reich meiner Träume.
Der heilen und stillen Totenwelt. Zerstört ist mein altes, äußerliches Ich, befreit ist mein wahres Gesicht.
Der Klang der reinen Stille ist wie ein Schlaflied für mich, das meine Seele besänftigt und zum Ruhen bringt.

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