Kapitel 6

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Das Erste, woran ich am nächsten Morgen dachte, war Vincent. Und ich hasste mich dafür.

Schwerfällig schleppte ich mich erst ins Bad und dann zum Frühstück, wo mich meine Mutter mit einem strengen Blick und einem Glas in der Hand erwartete.

„Kannst du mir erklären, warum das Glas hier zerkratzt ist?", fragte sie und hielt mir das Gefäß unter die Nase. Tatsächlich waren zwei Finger breit voneinander entfernt zwei tiefe Kratzer im Glas, die ich aber beim besten Willen nicht erklären konnte. Nach einem lauten Streit mit meinen Eltern stapfte ich ärgerlich in die Schule. War ich denn Gott oder was?

Dort erwarteten mich Elias, der sehr glücklich war, dass ich wieder sofort zu ihm kam und Vincent, der zwar so tat, als ob nichts gewesen wäre und mich freundlich begrüßte, aber bei genauerem Hinsehen von Augenringen gezeichnet war.

Die Stunden waren immer noch langweilig, da wir weiterhin viele Fächer zum ersten Mal hatten und die Lehrer nur Müll erzählten und ich mich nicht mit Vincent unterhielt, obwohl er versuchte, ein Gespräch zu beginnen. Ich ging allerdings nie darauf ein.

Die einzige Chance die ich ihm ließ war, dass ich meine Hand neben mir herunterhängen ließ, sodass er danach greifen könnte, doch es passierte fast den ganzen Tag nichts.

Bis heute weiß ich nicht, wieso ich das getan hatte, eigentlich wollte ich ja nicht über Liebe nachdenken.

Dann plötzlich – wir waren schon in der zweiten Hälfte des letzten Blocks – spürte ich etwas Schmieriges meine Hand berühren.

Verwirrte guckte ich nach unten.

Meine Stimmung hellte sich augenblicklich auf, als ich ein Stückchen Schokolade zwischen meinen Fingern erblickte.

Im nächsten Moment, in dem sich unsere Lehrerin abwand, aß ich das süß gewordene Gold, was mich sehr glücklich machte. Dankbar lächelte ich Vincent an.

Vincent: ‚Ich wusste doch, dass ich dich so kriege ;)'

‚Niemand hat gesagt, dass du mich mit einem Stücken Schokolade aufgeweicht hast', schrieb ich darunter um blöde Kommentare zu vermeiden.

Vincent: ‚Sicher?'

Jakob: ‚JA!'

Vincent: ‚Wetten doch?'

Jakob: ‚Wetten nicht?'

Gerade als ich mal wieder kurz nach vorne sah, spürte ich erschrocken wie eine andere Hand erst etwas unbeholfen, dann aber selbstbewusst nach meiner griff und unsere Finger miteinander verschränkte.

Eigentlich wollte ich mich losreißen, aber schon nach Sekunden merkte ich, wie sehr mich das beruhigte – und wie schön es war.

Also erwiderte ich den Druck und lächelte ihn an.

Etwas krakeliger als sonst schrieb er schnell mit links:

‚Wette gewonnen!'

und zwinkerte mir zu.

Ich zog kurz einen Schmollmund bevor ich wieder lächelte und in Gedanken versank.

Als ich von der Klingel wieder in die Realität geholt wurde befreite ich schnell meine Hand. Ich wollte um jeden Preis nicht als schwul gelten.

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Die darauffolgenden Tage verliefen alle nach demselben Muster: aufstehen, in die Schule gehen, ein paar Blöcke mit Schreiben verbringen (natürlich in den seltensten Fällen den Stoff), Händchen halten, so kitschig das auch sein mag, nach Hause gehen, zocken, schlafen. Je länger das so ging, umso besser gefiel es mir. Ich liebte diese Nähe zu Vincent, dieses Gefühl der Geborgenheit, der Unverwundbarkeit. Inzwischen ging ich nachgerade gerne in die Schule, was schon sehr verwunderlich war.

Ein kleines GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt