Kapitel 29

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„Okay, ruhig bleiben. Seid nicht zu hibbelig, sonst fallen wir auf", gab Lukas zu bedenken.
Vincent und ich nickten.
Aber es fiel uns schwer, nicht vor Begeisterung und Aufregung durch die Zimmer zu tanzen. Heute würden wir endlich freikommen, nach mehreren Monaten Gefangenschaft.
Vincent war in der Zwischenzeit des Nachts ein paar Mal bei Lily, die glücklich mit Tanja zusammen war und auch bei den wenigen anderen Menschen, denen wir etwas bedeuteten. Es muss schrecklich sein, wenn man seine Geliebten einfach so verliert.

Aber ich hatte die Freiheit seit Monaten nicht mehr gesehen.
Und ich vermisste sie wirklich sehr.

Einige Minuten später kam Vincent mit dem nächsten Wächter die Treppe herunter, nachdem er kurz vorher oben die Tür geöffnet hatte.
„Und verhalten sich die Wichser wenigstens ruhig?", fragte der Typ missgelaunt und warf ein Auge auf uns.
„Ja, haben heute nicht einmal geklingelt", teilte Lukas mit und zwinkerte uns entschuldigend zu.
„Na gut, ich hab sie lebend übernommen. Aber du bist mein Zeuge, wenn die meckern kann ich für nix mehr garantieren", knurrte er und Lukas nickte eilig. Die Logik erschloss sich mir zwar nicht so richtig, aber in Ordnung.
„Okay, dann lass uns nicht länger bei den Opfern bleiben", schlug der Typ vor.
„Klar, ich geh nur noch schnell auf Toilette", entschuldigte sich Lukas und verschwand gleich darauf hinter der Tür am Ende des Ganges.

Der neue Wächter bedachte uns noch mit einem abschätzigen Blick, bevor er sich in Richtung der Treppe aufmachte.

„Ein letztes Mal die Luft atmen", schlug Vincent lächelnd vor und legte seine Lippen an das Glas.
Ich antwortete gar nicht erst, sondern holte gleich tief Luft.
Wie beim ersten Mal schoben wir uns die warme, feuchte Luft unserer Lungen hin und her, bis uns schwindelig wurde.
Gleich würde ich meinen Vincent in den Armen halten können.
Kichernd warf ich mich aufs Bett, sprang aber sofort wieder auf, als ich Lukas' Schlüssel im Schloss hörte.

Ich ließ ihm kaum die Zeit, auch Vincents Tür zu öffnen, bevor ich ihn in eine enge Umarmung zog. Mit Vincent natürlich.
„Hast du mein kleines Geheimnis schon zu Lily gebracht?", fragte ich leise. „Mein kleines Geheimnis". So hatte ich die Geschichte genannt, die wohl heute ihre letzte große Etappe antreten würde.

„Ja, sie hat sich gefreut. Dann hat sie die Runen gesehen", erzählte Lukas und kicherte.
„Also gut, ich muss weg, sonst wird es verdächtig. Ihr kennt meine Adresse", meinte Lukas und drückte uns noch einmal zum Abschied.
Dann verschwand er.

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„Und du bist dir wirklich sicher?", vergewisserte sich Vincent noch einmal.
Ich nickte.
„Auch wenn es irreversibel ist und du dir ständig auf die Zunge beißen wirst?", hakte er nach.
Wieder nickte ich und zog Vincent in die Mondstrahlen, die durch das vergitterte aber geöffnete Fenster von Vincents Raum fielen und den Boden in ein helles Licht tauchten. Es war Vollmond in dieser Nacht.
Vincent stellte sich hinter mich und legte seine Hände auf meinen Bauch.
„Beiß mich", hauchte ich.
Ein animalisches Knurren ertönte und Vincent versenkte seine Zähne rücksichtslos in meinem Hals.

Sofort begann alles, sich wild zu drehen. Der Raum um mich verschwand und wurde durch einen Nebel ersetzt, der uns umwaberte, und mich auffressen wollte.
Vor meinen geschlossenen Augen zeichneten sich wild drehende Penta-, Hexa-, Hepta-, Okta- und was sonst noch alles für Gramme ab. Schriftzeichen, die meinen Runen erstaunlich ähnlich sahen, füllten ihre Zwischenräume und bildeten Formeln, die niemals ein Mensch entschlüsseln konnte. Langsam lichtete sich der Schleier wieder und warf mich in die Realität zurück.

Atemlos drehte ich mich um und sah Vincent in die Augen.
„Wow, Jake", flüsterte dieser und starrte mich mit offenem Mund an.
„Du bist gerade eben um dreihundert Prozent schöner und heißer geworden", stellte er fest und legte seine Hand an meine Wange.

Ein kleines GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt