Kapitel 9

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Der letzte Block des Tages, es war das ausgesprochen spannende Fach Geschichte (hoch lebe die Ironie), neigte sich dem Ende zu und meine Laune hob sich.

‚Machen wir heute Nachmittag etwas zusammen?', fragte Vincent.

„Nein, tut mir leid", antwortete ich ehrlich, „Montags muss ich immer zu meinen Großeltern fahren", antwortete ich im Flüsterton.

‚Oh okay, schade. Dann sehen wir uns ja erst am Mittwoch wieder. Morgen Nachmittag geh ich ja klettern. Oder willst du etwa wieder mitkommen? :)'

„Okay.. Naja, wir sehen uns ja noch in der Schule. Vielleicht macht ja auch ein Quäntchen Abstand das Ganze intensiver...", sagte ich schmunzelnd. Einige Sekunden genoss ich sein geschocktes Gesicht, bis ich ihn erlöste: „Natürlich komm ich mit. Es sei denn du willst das nicht, wovon ich mal nicht ausgehe."

Er atmete erleichtert aus, dann klingelte es.

Ich packte in gefühlter Lichtgeschwindigkeit mein Material ein (Vincent war übrigens trotzdem schneller und wartete auf mich) und wollte gerade den Raum verlassen als Vincent schrieb:

‚Können wir noch kurz bei den Spinden r e d e n?'

Ich nickte zur Bestätigung und folgte ihm in den Keller zu den blauen Schließfächern. Zumindest waren sie überall dort blau, wo die Oberfläche nicht beschmiert war. Auch die Wände des gesamten Kellers waren mehr oder weniger kreativ verziert.

Vincent wartete, bis die meisten Schüler aus dem Gebäude geflüchtet waren, bevor er leise fragte: „Hast du eigentlich ernsthaft erwartet, dass ich reden will?"

Einen Moment lang tat ich so, als überlegte ich, schüttelte aber dann entschlossen den Kopf.

Vincent hingegen drückte mich vorsichtig aber bestimmt gegen den Spind hinter mir und küsste mich intensiv, während er meine Handgelenke an das kalte Metall presste.

Ich schmunzelte kurz, bevor ich mich ganz in den Kuss gab.

Fast schien es, als bliebe für mich die Zeit stehen, während wir uns heimlich liebten – wegen mir mussten wir es nicht öffentlich machen. Wir küssten uns sehr liebevoll, aber nicht verlangend. Es war ein Zeichen der Liebe, nicht der Lust.

Zum Glück hörte ich trotzdem die Schritte, die sich uns auf dem Gang näherten und drückte Vincent bestimmt von mir – so sehr es mir auch Leid tat.

Nur der verliebte Blick, den unsere Augen tauschten, während wir in die andere Richtung verschwanden und nach Hause liefen, zeugte noch vom vor wenigen Sekunden Geschehenen.

Bis vor meine Haustür begleitete mich Vincent noch, wo er mir einen kurzen Abschiedskuss gab und ging dann nach Hause.

Ich hingegen stellte meinen Rucksack im Flur ab und machte mich dann wieder auf den Weg zur Haltestelle, von welcher aus ich einige Stationen mit der Straßenbahn fuhr.

Währenddessen beobachtete ich die Menschen um mich herum. Mir bot sich das gleiche traurige Bild der Menschheit wie immer.

Einige Reihen vor mir saß eine junge Frau, vielleicht dreißig Jahre alt, mit pink gefärbten Haaren und spielte an ihrem Handy Pou. Neben ihr saß ihr Kind, ich schätzte das Mädchen auf sechs Jahre, und versuchte dann und wann ein Gespräch mit ihrer Mutter zu beginnen. Einmal wollte sie wissen, wie denn der schwarze Vogel auf dem Gehsteig hieße, ein anderes Mal, warum denn der Baum am Straßenrand seine Haut verliere.

Ihre Mutter ignorierte sie entweder ganz oder warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster, um dann in völliger Unwissenheit ihre Schultern zu zucken und sich wieder ihrem Kackhaufen mit Gesicht zu widmen. Wie sollte denn das arme Kind etwas über die Welt lernen?

Ein kleines GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt