Diese Frage trifft mich wie aus dem heiterem Himmel. Ich schnappe nach Luft und mein Herz beginnt zu rasen. "Meine Eltern? Meine Freunde?" Tränen kullern meine Wangen herunter und sofort kommt die Schwester auf mich zugerannt. "Entschuldige! Ich wollte dir auf gar keinen Fall zu nahe treten! Ich dachte nur, dass du sie vielleicht vermisst hast und deswegen gerne wiedersehen möchtest?" Vorsichtig streckt sie ihre Hand nach mir aus, doch ich schüttel sofort heftig mit meinem Kopf. Diese Geste respektierend nimmt sie ihre Hand wieder zurück und verlässt sogar ganz den Raum.
Ich fange an zu schluchzen und bekomme unerträgliche Schmerzen in der Brust und sogar im Bein. Ich versuche mich irgendwie wieder zu fangen, zu beruhigen. Doch ich bin zu aufgewühlt. "Mein Eltern? Meine Freunde?" Immer wieder höre ich sie diesen Satz fragen und immer wieder fährt mir ein neuer Schauder den Rücken herunter. "Ob ich sie sehen möchte? Ich.. Ich weiß es doch nicht! Natürlich möchte ich sie sehen! Ich liebe sie. Doch auf der anderen Seite ist da so viel Hass, so viel Wut. Bilder die sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt haben. Wie soll ich ihnen da noch in die Augen schauen können? Wie soll ich es da noch überhaupt wollen?" Ich schließe die Augen und die besagten Bilder tauchen wieder auf. Caroline und Marc die Intim sind. Meine Eltern, die mich ersetzen wollen. "Warum sollte ich solchen Menschen noch in die Augen schauen wollen?"
Irgendwann habe ich mich langsam wieder beruhigt und versuche meine Atmung wieder gleichmäßig hinzubekommen. "Die Schwester meinte, dass ich sie bestimmt vermisst hätte. Dass ich mich darüber freuen würde, wenn ich sie wieder sehen würde. Denn sie weiß nicht, was passiert ist. Sie weiß nicht, was ER mir in diesem Keller gezeigt hat. Welche Lügen er in meinem Leben aufgedeckt hat!" Wieder spüre ich wie sich mein Herzschlag erhöht und ich schüttel mit dem Kopf. "Nathalie, du musst an etwas anderes denken. Versuch es einfach. An was hast du sonst immer gedacht? An was hast du gedacht, bevor es passiert ist?" Ich werde ganz leise und denke in Ruhe darüber nach. Am Ende seufze ich. "Du hast viel nachgedacht, aber über was schon? Welche Tasche du noch unbedingt brauchst. Wann du mal wieder mit deinen Leuten feiern gehst. Wie du am besten mit Marc zusammen kommst. Doch nun? Was sind diese Gedanken im Vergleich zu dem, was ich nun Denke? Sie sind ein Witz im Gegensatz zu dem, was ich bisher durchgemacht habe. Es sind Gedanken, über die ich mich nun lustig mache und an die ich keine Zeit mehr verschwenden möchte."
Ich drehe meinen Kopf wieder zum Fenster hin und auf einmal habe ich den Wunsch rauszugehen. Den Wunsch das Gras unter meinen Füßen zu spüren. Den Wunsch den Wind auf meiner Haut zu spüren." Ich überlege noch einen kurzen Augenblick und drehe dann den Kopf zurück auf die andere Seite und suche nach dem Knopf für die Schwester. Schon nach dem ersten Läuten kommt die Schwester von vorhin rein. "Ja Nathalie?", fragend sieht sie mich an. "Könnte ich bitte mit meinem Arzt sprechen?" Erstaunt sieht sie mich an und nickt dann schnell mit dem Kopf. "Natürlich. Ich schaue gleich nach wo er gerade ist." "Danke." Sie schließt die Tür wieder und mein Blick gleitet sofort zurück zu dem Fenster nach draußen. Nach draußen in die Freiheit.
Ein leichtes, aber bestimmtes Klopfen lässt mich zusammenfahren und ich sehe wie mein Arzt herein kommt. "Nathalie, du hast nach mir gerufen." Langsam kommt er auf mich zu und ich versuche mich nicht vor Furcht in mein Kissen zurückzudrücken. Ich schlucke, doch spüre ich, dass meine Kehle ganz trocken ist. Mein Herz pocht gegen meine Lippen, doch mein Wunsch überwiegt. "Ich wollte sie Fragen, ob ich rausgehen darf?" Überrascht bleibt er stehen und schaut mich an. "Du möchtest nach draußen gehen?" Ich nicke mit meinem Kopf und sehe ihn hoffnungsvoll an. "Warum?" Er zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich neben mein Bett. "Ich möchte raus und das Gras unter meinen Füßen spüren. Ich möchte raus und möchte, dass der Wind über meine Haut streichelt. Ich möchte raus in die Freiheit." Er nickt langsam mit dem Kopf, aber lässt mich nicht aus den Augen. "Ich verstehe dich, aber dir ist bewusst, dass jemand mit dir gehen muss?" "Nein. Nein, daran hatte ich nicht gedacht." Ich wende meinen Kopf ab und schaue auf meine Hände. Ich denke darüber nach und weiß eigentlich gar nicht, wovor ich mich fürchte. Schließlich schaue ich ihn wieder an und nicke mit dem Kopf: "Selbstverständlich."
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Willkommen in meiner ganz persönlichen Hölle
HorrorWie beginnt man am besten eine Geschichte, die ein Leben für immer veränderte? Welche Gedanken und Gefühle schreibt man auf? Wie soll man erklären können, was man selber nicht versteht? Welchen Sinn hat ein Leben, in dem es keine Hoffnung mehr gibt...