Diesmal ist es Sabrina die sich nicht zusammenreißen kann. Ihre Kinnlade klappt herunter und ihre Augen weiten sich vor Überraschung. "Was?" Ein Lächeln des Wissens huscht durch mein Gesicht und ich muss mich bei ihrem Anblick selber zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Erheitert muss ich feststellen, dass ich es geschafft habe sie zu überraschen.
Immer noch erstaunt nimmt mich Sabrina in ihr Visier. "Nathalie, warum? Ich meine, die ganze Zeit über wolltest du deine Eltern nicht sehen und jetzt ganz plötzlich doch? Ich finde es gut, wenn du diesen Schritt machen möchtest, aber ich verstehe ihn nicht."
Ich überlege, ob ich ihr die Wahrheit sagen soll, doch entscheide mich dagegen. "Sabrina es tut mir leid, aber dafür kann ich dir keine Antwort geben. Das ist etwas zwischen meinen Eltern und mir." Ich bemerke wie Sabrina bei meiner Antwort eine Augenbraune nach oben zieht, aber trotzdem schweigt. Ihr Blick gleitet zu ihren Händen herab die sie anfängt zu kneten und ebenfalls damit anfängt auf ihrer Unterlippe herum zu kauen. "Sie scheint sehr mit sich zu kämpfen", stelle ich fest. Die ganze Zeit über bin diesmal ich diejenige die sie nicht aus den Augen lässt und genau beobachtet. Ihre Brust hebt und senkt sich immer wieder und schließlich stößt sie einen langen Atemzug aus mit dem sie wieder aufblickt. Ihre grünen Augen bohren sich in die meine. "Nathalie, bist du dir ganz sicher?"
In diesem Moment wende ich meinen Blick von ihr ab und möchte mich für meine eigene Feigheit Ohrfeigen. "Eigentlich sollte ich jetzt mit voller Überzeugung ja sagen, aber ich kann es nicht. Denn die Wahrheit ist: Nein, ich bin mir nicht ganz sicher. Aber ich sehe keine andere Möglichkeit als diese. Ich werde erst erfahren, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe, wenn ich meine Idee in die Tat umgesetzt habe." Die Minuten verstreichen und jeder von uns beiden ist in seinen eigenen Gedanken versunken. In meinem Krankenhauszimmer herrscht Schweigen, doch draußen zwitschern die Vögel im Schein der Sonne. Sabrina kreuzt erneut ihre Beine übereinander und greift wieder zu ihrer Zeitschrift. Eine Welle der Zuneigung durchströmt mich und ich atme erleichtert auf: "Sie gibt mir die Zeit, die ich brauche." Überrascht von meinen plötzlichen Gefühlen zucke ich zusammen. "Natürlich gibt sie mir die. Es ist ihre Aufgabe mich 'wiederherzustellen'. Es ist ihr Job herauszufinden, was mit mir los ist. Sie muss nett zu mir sein. Doch die Wahrheit ist. Eigentlich möchte ich mich jemandem öffnen. Möchte erzählen, was ich erlebt habe. Doch ich kann es nicht. Nicht nur wegen all den Schmerz den ich währenddessen fühlen werde, sondern auch wegen der Angst vor der Reaktion des anderen." Eine gewohnte Angst schnürt mir die Kehle zu und ich fange an, wieder an meine Idee zu denken. "Also Nathalie? War das eine gute Idee? Möchtest du dieses Pokerspiel bestreiten?" Die Minuten vergehen und meine Gedanken überschlagen sich kreuz und quer.
Es wird langsam dunkel draußen und ich höre wie Sabrina sich räuspert. "Nathalie, ich werde jetzt gehen. Wir sehen uns morgen." Ich nicke ihr zu und beobachte wie sie auf die Tür zugeht. Gerade als ihre Hand nach der Türklinke greift sammel ich meinen Mut und spreche meine Entscheidung aus: "Ja, Sabrina. Ja, ich bin mir sicher." Sabrina dreht sich zu mir um und schaut mich lange an. Schließlich schüttelt sie mit ihrem Kopf. "In Ordnung. Wenn du das möchtest, werde ich deine Eltern auf jeden Fall holen. Ich komme morgen früh noch einmal kurz vorbei und danach sollst du deine Eltern sehen." Mit diesen Worten geht sie aus dem Zimmer.
Die Nacht über schlafe ich sehr schlecht. Immer wieder frage ich mich, ob meine Entscheidung wirklich die richtige sei. Und immer wieder stelle ich mir vor, wie das Treffen zwischen meinen Eltern und mir wird. Wie sie auf mich reagieren werden. Was sie sagen werden. Und vor allem, was ich sagen und tun werde.
Die Nacht vergeht im Schneckentempo und am nächsten Morgen, als mir die ersten Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen, fühle ich mich erschöpft und müde. Die Pflegerin kommt herein und bringt mir mein Frühstück, doch ich verspüre keinen allzu großen Hunger. Ein sachtes Klopfen lässt meinen Blick wieder zur Tür gleiten und ich sehe wie Sabrina erneut mein Zimmer betritt. "Guten Morgen Nathalie. Ich hoffe du hast gut geschlafen. Ich wollte dich fragen, ob du immer noch derselben Meinung bist wie Gestern?"
Ein Schaudern überläuft meinen Rücken, doch ich nicke, unfähig meine Stimme zu benutzen. "Gut, dann werde ich jetzt deine Eltern holen, wenn es dir nichts ausmacht." Wieder nicke ich und wieder schließt sich meine Tür.
Ich sitze da und merke wie Übelkeit in mir aufsteigt. Mein Herz fängt an zu rasen und ich spüre wie sich Schweißperlen auf meiner Stirn bilden. Meine Hände sind eiskalt vor Angst und ich atme immer schneller ein und aus. Panik ergreift mich und ich möchte am liebsten wegrennen. "Gleich sehe ich meine Eltern. Eltern die ihr eigenes Kind aufgegeben haben und ersetzten wollten." Tränen steigen in meine Augen, doch ich lasse nicht zu, dass sie diese auch verlassen. "Nein, jetzt heißt es Stärke zu zeigen." Ich schlucke noch einmal, als es erneut an meine Tür klopft. Nach wenigen Sekunden schwingt die Tür auf und gibt mir die Sicht frei auf meine Eltern.
In diesem Moment fühle ich alles. Abgesehen davon, dass mein Herz rast, stockt mir der Atem. Ich fühle Erleichterung, darüber meine Eltern zusehen. Denn sie zu sehen, bedeutet, dass ich wirklich aus diesem Keller befreit wurde. Ich möchte mich in ihre schützenden Arme werfen, doch da steigt ein anderes Gefühl in mir hoch: Wut. Unfassbare Wut ergreift mich und scheint jede noch so kleine Zelle meines Körpers zu vergiften. "Wie konnte sie mich nur im Stich lassen? Wie konnte sie nur zulassen, dass er mir so etwas angetan hat? Wie konnten sie nur?" Und nun laufen mir doch meine Tränen die Wangen herunter und ein Schluchzen entgleitet meiner Kehle.
Meine Eltern stehen wie erstarrt in der Tür und können sich nicht regen. "Was für einen Anblick ich ihnen wohl bieten muss?" Mein Vater, scheint sich als erster zu fassen und geht mit langsamen Schritten auf mich zu: "Nathalie?" Ich nicke und halte mir die Hand vor den Mund, um weitere Schluchzer zu unterdrücken. Auch meine Mutter kommt jetzt langsam auf mich zu. Unsicher bleiben die beiden in der Mitte des Raumes stehen und schauen mich an. Die Minuten vergehen und sie warten, bis ich mich wieder gesammelt habe. Mit einem letzten Schluchzen reiße ich mich zusammen und zeige auf die beiden Stühle am Ende meines Bettes. Die beiden gehen darauf zu und setzten sich hin. Immer noch fühle ich mich entkräftet und überfordert, doch ich richte mich auf und schaue die Beiden an. Ich öffne meinen Mund, doch schließe ihn dann wieder. Am Ende begrüße ich sie mit zittriger Stimme: "Hallo Mama. Hallo Papa." Ein trauriges und erschöpftes Lächeln gleitet über ihre Lippen und da erst bemerke ich, wie mitgenommen sie aussehen.
Beide haben dunkle Augenringe und sehen aus, als wären sie um Jahre gealtert. Tiefe Falten zeichnen sich durch ihr Gesicht und beide sehen blasser aus, als ich sie in Erinnerung habe. Die Wangenknochen meiner Mutter stechen mehr hervor, als sonst und ich bemerke, dass beide abgenommen haben. Doch nicht nur das. Ihr ganzes Erscheinungsbild hat sich verändert. Ihre Schultern hängen kraftlos herab und ihr Haar liegt wirr herum.
In diesem Moment gerate ich ins schwanken und Fragen über Fragen brechen über mich herein. "Wie können sie so mitgenommen aussehen, wenn ich ihnen so egal war? Warum sehen sie nicht so aus, wie auf dem Video? Was war hier los?"
Ich runzel nachdenklich mit der Stirn und öffne dann doch meinen Mund, um etwas zu sagen: "Ich glaube wir müssen uns unterhalten."
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Ich hoffe, dass neue Kapitel gefällt euch wieder und ihr seid schon gespannt wie es weiter geht :D
Wie immer freue ich mich über eure Kommentare und Reaktionen
Liebe Grüße
black_rose_kiss
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Willkommen in meiner ganz persönlichen Hölle
HorrorWie beginnt man am besten eine Geschichte, die ein Leben für immer veränderte? Welche Gedanken und Gefühle schreibt man auf? Wie soll man erklären können, was man selber nicht versteht? Welchen Sinn hat ein Leben, in dem es keine Hoffnung mehr gibt...