Kapitel 12: Ein Kreis an Fragen

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Was in den nächsten paar Stunden geschehen war, weiß ich nicht mehr genau. Ich sehe noch immer die überraschten Gesichter meiner Eltern und die fassungslosen Reaktionen der Ärzte. Sabrina und Alexander haben lange und heftig diskutiert, doch am Ende mussten sie sich meinem Willen wohl oder übel unterordnen.

Nun sitze ich hier, mein gepackter Koffer steht vor mir und ich warte drauf, dass meine Eltern mich abholen und mit nach Hause nehmen. Sachte klopft es an meiner Tür und mir zwei vertraute Gesichter treten ein. Mit bedachten, aber entschiedenen Schritten kommen Sabrina und Alexander auf mich zu und setzten sich auf die beiden Stühlen, auf denen vorhin noch meine Eltern saßen. Ich spüre, dass ich mich unwohl fühle. "Sie wollen mich eigentlich hier behalten, da sie befürchten es wäre noch zu früh zu gehen. Doch auf der anderen Seite scheinen sie mich für meinen Mut zu respektieren und es anzuerkennen." Ich schüttel sachte mit dem Kopf und ein kleines Schmunzeln gleitet über meine Lippen. "Vielleicht sind sie auch nur überrascht von meiner eigenen 'Dummheit'." Ein räuspern lässt mich aufblicken und ich schaue Alexander fragend an, der sich sichtlich unwohl fühlt. "Nathalie, ich glaube es ist kein Geheimnis, dass wir mit deiner Entscheidung nicht ganz glücklich sind. Wir haben einige Bedenken, aber trotz alledem wollen wir deine Entscheidung respektieren."

Erleichtert stoße ich meinen angehaltenen Atem wieder aus: "Also bin ich, doch nicht so ganz dumm." Ich bemerke eine Handbewegung zu meiner linken und spüre im nächsten Moment eine Hand auf meiner liegen. Erschreckt reiße ich meine Hand zurück und schaue Sabrina mit weiten Augen an. "Nathalie hör mir bitte zu.", fängt sie mit leiser, aber eindringlicher Stimme an. "An solche Berührungen wirst du dich gewöhnen müssen. Es werden Freunde zu dir kommen, die dich anfassen werden. Es werden Familienmitglieder kommen, die dich in ihre Arme schließen wollen. Du wirst auf der Straße laufen und Fremde werden dich berühren. Viele normale Menschen würden sich einfach nur darüber ärgern, wenn sie zur Seite geschubst werden, doch für dich werden solche Berührungen immer eine andere Bedeutung haben. Es wird Menschen geben, die dich Sachen fragen werden. Die Menschen werden neugierig sein. Sie werden dich vielleicht auch nur unbewusst an Dinge erinnern, die du vielleicht lieber vergessen möchtest. Und deswegen frage ich dich, hältst du es wirklich für eine gute Idee jetzt schon nach Hause zu gehen, wenn du schon bei meiner kleinen Berührung so reagierst? Die Leute in deinem Umfeld wissen vielleicht was mit dir passiert ist, aber inwiefern werden sie das respektieren und dir den Freiraum lassen den du brauchen wirst. Woher sollen sie wissen, was richtig und falsch ist?"

In diesem Moment laufen mir erneut Tränen über die Wangen und all meine Pläne fallen in sich zusammen. "Sie hat recht. Ich wollte nach Hause gehen und hoffen, dass keiner etwas weiß. Ich wollte nach Hause gehen und so tun, als wäre nie etwas passiert. Ich wollte es verdrängen und nicht akzeptieren. Doch es ist passiert. Es gibt IHN wirklich und ich war entführt. Ich kann nicht so tun, als wäre nie etwas passiert. Doch ich kann doch nicht für immer mich dahinter verstecken. Ich möchte nicht das Mitleid aller zu spüren bekommen."

Meine Lippen zittern heftig, doch trotzdem versuche ich ruhig zu sprechen. "Ich hab eine Frage." Die Gedanken schnellen mir kreuz und quer durch den Kopf, doch ich versuche mich zu sammeln. Die ganze Zeit über schaue ich Sabrina und Alexander nicht an. "Wissen die Leute was mir passiert ist? Was haben die Medien berichtet? Haben sie meinen Namen genannt?" Ich habe gefragt, was ich wissen wollte und Stille senkt sich über uns nieder. Ich höre meinen eigenen Atem, der teilweise stoßweise kommt. Die Minuten scheinen sich endlos in die Länge zu ziehen, doch ich bewege mich nicht.

Schließlich ist es Alexander, der diesmal das Wort ergreift: "Ja, sie haben über dich berichtet. Sie haben über dich als Nathalie B. gesprochen und gesagt, dass du siebzehn Jahre alt bist. Außerdem, dass du am Abend des 24. Juni nicht nach Hause zurückgekehrt bist und dann haben sie wieder von dir berichtet, als dich die Polizei befreit hat. Sie haben auch gesagt, dass sie dich in Berlin gefunden haben."

Willkommen in meiner ganz persönlichen HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt