"Berlin." Ich merke wie mein Mund offen steht und ich Sabrina überrascht anschaue. "Berlin?", flüstere ich. Sie nickt und schaut mich überrascht an. Genauso wenig wie ich, hat sie mit dieser Reaktion gerechnet. "Warum bin ich so verwirrt? Warum trifft es mich so, dass ich in Berlin bin?"
Ein schmunzeln gleitet über meine Lippen und Sabrina zieht überrascht eine Augenbraune nach oben. Doch sie interessiert mich in diesem Moment nicht weiter und ich schaue aus dem Fenster. "Berlin hat eine ganz besondere Bedeutung für mich. Schon seitdem ich ein kleines Kind bin, fahre ich jedes Jahr mit meinen Eltern nach Berlin, auf einen kleinen Bauernhof außerhalb, um Urlaub zu machen. Dieser Ort bedeutet für mich ein Stück Heimat und dort bekomme ich immer das Gefühl der Freiheit. Und nun soll ich so lange in einem Keller in Berlin eingesperrt worden sein? In der Stadt, die für mich Freiheit bedeutete?" Ich schüttel kaum merklich mit dem Kopf und spüre wie eine einzelne Träne meine Wangen herunter läuft. "Was hat er mir denn noch alles genommen?" Ich schließe meine Augen und bemerke, dass mein Herz wild gegen meine Rippen pocht. Bei jedem neuen Schlag spüre ich, dass ich lebe, doch ich fühle mich nicht so. Ich fühle mich leer. Ich fühle schmerzen, schmerzen die sich nicht beschreiben lassen. "Ich habe Fragen, viele Fragen..."
Ich schaue wieder zu Sabrina und wische mir mit dem Handrücken schnell die einsame Träne weg. "Wie lange war ich entführt?" Ich bemerke, wie Sabrina mit der Stirn runzelt. Sie schaut mich eindringlich an und legt ihren Block weg. "Nathalie, du warst 42 Tage eingesperrt gewesen." Ich schlucke. "42 Tage! Ich wusste das es lang war, aber so lang? Über einen Monat saß ich in diesem verdammten Keller gefangen! Über einen Monat hat er mich gefoltert und misshandelt!" Der Schmerz in meiner Brust verschlimmert sich und nun kommt mit jedem weiteren Herzschlag ein Stückchen Wut hinzu. "ER lebt oder? ER hat die Befreiung überlebt!", es bricht aus mir heraus und meine Augen glühen. Mir wird warm und ich möchte schreien. Schreien und etwas zerstören. "Nathalie beruhige dich! Du bist noch sehr schwach..." "Das war nicht meine Frage! Ich will wissen, ob ER noch lebt!" Mitfühlend schaut mich Sabrina an und am liebsten würde ich sie dafür schlagen. "Ich brauche ihr verdammtes Mitleid nicht." Ich beiße die Zähne fest aufeinander und schaue sie weiterhin mit stolzem Blick an. "Ja Nathalie. Ja ER hat überlebt."
Ich wusste, dass diese Antwort kommen würde, doch trotzdem spüre ich wie ich erstarre und sich eine eisige Kälte in mir ausbreitet. Ich presse meine Lippen so fest aufeinander, dass sie eine einzige weiße, dünne Linie bilden. Ich bemerke aus dem Augenwinkel, dass Sabrina aufgestanden ist und langsam auf mich zu kommt. Ruckartig drehe ich meinen Kopf von ihr weg und gebe ihr zu verstehen, dass sie mich alleine lassen soll. "Rufen sie Alexander, ich möchte gehen." Sabrina sieht mich nicht ganz überzeugt an doch sie beugt sich meinem Willen und greift zum Telefon. Gezielt gibt sie eine Nummer ein und sagt Alexander Bescheid, dass er mich abholen soll. Langsam legt sie den Hörer wieder zurück und streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht. "Nathalie, ich weiß, dass du nicht mit mir reden möchtest, aber ich bewundere dich wirklich sehr. Natürlich wirst du mir das jetzt nicht glauben, aber es ist wirklich so. Du musst wissen, ich hatte schon sehr viele Patienten, aber noch nie bin ich einem Menschen wie dir begegnet. Ich.." Sabrina bricht abrupt an und schaut aus dem Fenster. Ich schaue in ihr Gesicht und versuche sie zu verstehen, doch sie trägt eine makellose Maske. " Warum redet sie so mit mir?" Ein leises Klopfen lässt mich aufhorchen. Sabrina erhebt sich von ihrem Stuhl und öffnet die Tür, um Alexander herein zu lassen. Mit einem Lächeln im Gesicht kommt er auf mich zu. "Soll ich dich in dein Zimmer bringen?"
Obwohl er mir noch immer Angst macht und ich ihn am liebsten von mir Stoßen möchte, gestehe ich mir ein, dass ich auf ihn angewiesen bin. "Ja, bitte." Mit einem Nicken kommt er auf mich zu, doch bleibt dann vor mir stehen. Er kniet sich vor mich nieder und schaut mir direkt in die Augen. "Nathalie hör zu, ich weiß, dass du es nicht magst, wenn ich dich schiebe, also wollte ich dich fragen, ob ich lieber eine Schwester rufen lassen soll?" Überrascht von dieser Frage schaue ich ihn an und unterschiedliche Gefühle regen sich in mir. Die eine Stimme sagt: "Trau ihm nicht! Er tut jetzt nur auf nett um dich dann später in eine Ecke zu reißen und über dich herzufallen! Er ist ein Mann, er will nun einmal immer nur das Eine!" Und die andere erwidert: "Denk doch nicht so einen Unsinn! Er ist dein Arzt und möchte dir nur helfen! Wenn er so etwas machen wollte, hätte er es schon längst tun können. Außerdem sind hier viel zu viele Menschen." An dieser Reaktion erkennt man, wie wenig Vertrauen ich nur noch in die Menschen habe und wie viel Angst ich habe. Doch trotzdem weiß ich, dass ich über meinen Schatten springen muss, ob ich es möchte oder nicht.
Ich erwidere Alexanders Blick und nicke. "Sie können mich in mein Zimmer schieben, danke." Mit einem erleichterten Lächeln erhebt er sich wieder und schiebt mich aus dem Raum. Doch bevor sich die Tür hinter uns schließt kommt Sabrina noch einmal auf mich zu. "Ich würde mich wirklich darüber freuen, dich bald wieder zu sehen." Ich nehme ihr Angebot kurz zur Kenntnis, doch dann möchte ich nur noch aus diesem Raum.
Ich liege endlich wieder in meinem Bett und bin für mich allein. "Heute ist schon viel passiert. Ich habe meine Eltern gesehen und diese seltsamen Fremden. Ich habe die ganzen Reporter vor dem Krankenhaus wahrgenommen und weiß nun, dass ich mich in Berlin befinde. Und ich weiß, dass ER überlebt hat." Ich schließe die Augen und atme einmal tief durch. Mit einem traurigen Lächeln im Gesicht schaue ich aus dem Fenster und beobachte die Wolken. "Obwohl ich heute meine Eltern gesehen habe, fühle ich gar keinen Drang sie wieder zu sehen. Die Zeit im Keller hat mich doch stark verändert. Ich habe etwas durchgemacht, was nie jemand nachvollziehen oder gar verstehen kann. Ich bin ein anderer Mensch. Mein Blick auf die andern hat sich verändert, aber auch meine Wünsche und Bedürfnisse. Wie glücklich ich früher darüber war, wenn ich neue Unterwäsche von Emporio Armani bekommen habe und wie glücklich ich nun bin, wenn ich mal fünf Minuten lang meine Pause habe und Zeit für mich habe.
Ich habe nicht mehr das Gefühl nur auf meine Eltern angewiesen zu sein, sondern, dass ich die Sachen nun auch alleine schaffen kann. Schließlich war ICH diejenige die in diesem Keller eingesperrt war und es überlebt hat und nicht SIE. Ich bin dadurch stärker geworden. Doch ich bin nicht nur stärker geworden, ich wurde auch zerstört. Tief in mir drin ist etwas gestorben und keine Zeit kann diese Wunden heilen. Sie sind nun ein Teil meines Lebens und ich muss lernen damit zu leben. Muss lernen es zu akzeptieren. Doch wie soll das gehen? Wie soll ich akzeptieren, dass ich in der Stadt gefangen war, die ich sonst so geliebt habe? Ich wollte immer nach Berlin ziehen. Ich wollte hier immer Studieren und dann hier Leben. Ich habe hier Schwimmen gelernt. Ich habe Freunde in dieser Stadt. Ich hatte meinen ersten Kuss in dieser Stadt. Und nun? Nun, will ich weg aus dieser Stadt! Weit weg und ihr für immer den Rücken kehren.
Doch nicht nur das. Ich müsste auch akzeptieren, was mit Nicole geschehen ist. Ich müsste es akzeptieren, dass er sie so leiden gelassen hat und am Ende sogar gegessen hat! Ich müsste es akzeptieren, dass ICH sie gegessen habe!" Tränen laufen meine Wangen herunter und ich breche in ein heftiges Schluchzen aus. Meine Brust beginnt schmerzlich zu brennen, doch ich habe eher das Gefühl, dass ich von innen her brenne. Das sich mein innerer Schmerz auf den Äußeren überträgt. Ich verstecke mein Gesicht in den Händen, doch es nützt nichts. "Ich fühle mich Schuldig! Ich kann es nicht akzeptieren! Ich kann es nicht akzeptieren, dass ich meine geliebte Stadt verloren habe. Ich kann es nicht akzeptieren, dass meine Kindheit nun vorbei ist. Ich kann es nicht akzeptieren, dass ich meine Unschuld an IHN verloren habe. Ich kann es auf gar keinen Fall akzeptieren, dass drei Menschen wegen mir gestorben sind!"
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Tut mir leid, dass ich nur noch so selten etwas poste...
aber ihr seid natürlich wie immer frei zu kommentieren ;)
Liebe Grüße
black_rose_kiss
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Willkommen in meiner ganz persönlichen Hölle
HorrorWie beginnt man am besten eine Geschichte, die ein Leben für immer veränderte? Welche Gedanken und Gefühle schreibt man auf? Wie soll man erklären können, was man selber nicht versteht? Welchen Sinn hat ein Leben, in dem es keine Hoffnung mehr gibt...