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„Ich geh noch mal kurz weg, Mum!", schrie ich durchs Haus, während ich mir die Stiefel über die Füße zog. Es polterte. Meine Mutter kam die Treppe runter und sah mich entsetzt an.

„Annie, Darling, es wird schon dunkel!" An ihrer Stimme konnte ich hören, dass ihr das nicht gefiel. Ich setzte ein Lächeln auf.

„Bitte Mum, du weißt doch, dass ich auf mich selbst aufpassen kann." Sie schnaubte. Wahrscheinlich bereute sie es jetzt mich damals, in der 8 Klasse, in den Selbstverteidigungskurs gesteckt zu haben. Nun konnte sie mir nämlich nichts mehr entgegenbringen.

Schließlich gab sie sich geschlagen. „Okay, du bist ja schon groß.", murmelte sie.

„Gut aufgepasst.", entgegnete ich.

Ich nahm mir meinen schwarzen Mantel vom Haken und ging durch die Tür. Meine Mutter blieb solange am Fenster stehen, bis ich um die nächste Ecke bog und verschwand. Ich schüttelte den Kopf. Irgendwann sollte ich mich mal ernsthaft mit ihr über das Erwachsenwerden unterhalten. Schließlich war ich seit einer Woche schon Achtzehn.

Meine Füße fanden von alleine den Weg über das vertraute Pflaster. Das war auch gut so, denn in Gedanken schwebte ich schon bei Luke. Wir waren jetzt fast ein Jahr zusammen. Ich liebte alles an ihm. Seine dunkelblonden Haare, seine blauen Augen, seinen Lippenpiercing. Sein schiefes Lächeln, seine glatte Haut, seine warmen Hände.

Ich blieb stehen. Vor mir war die große Tür aus Eichenholz. Ich klingelte. Die Tür wurde aufgemacht und Luke kam grinsend dahinter hervor.

„Hey Süße" Seine Stimme war so anziehend. Er zog mich in seine Arme. „Hey", flüsterte ich in sein Ohr. Er schaffte es die Tür zu schließen, ohne mich loszulassen.

„Und nun?", fragte ich mit einem schelmischen Lächeln. Er schüttelte lachend den Kopf. „Nun werden wir es uns gemütlich machen."

Er zog mich ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Dann schloss er seine Arme wieder um mich. „Annie Henderson, hab ich dir schon mal gesagt, wie wunderschön du bist?" Seine blauen Augen leuchteten. Ich lächelte. „Du bist ein Blindfisch, Schatz." Seine Hand strich über meine Wange. „Siehst du, selbst ein Blindfisch erkennt deine Schönheit." Mein Bauch kribbelte. Er zeigte mir immer wieder aufs Neue, wieso ich ihn liebte. Ich beugte mich zu ihm und küsste ihn. Ich konnte sein Lächeln spüren. Nach einer Weile hielt er mich zurück.

„Hast du morgen um zwei Uhr Zeit?" Ich verzog das Gesicht und schüttelte leidend den Kopf. Luke sah enttäuscht aus. „Es tut mir leid. Da hab ich Training." Ich fühlte mich selbst unwohl. Aber ich konnte das Training nicht absagen, nicht so kurz vor dem Lauf. Er lächelte tapfer. „Samstag?", war alles was er sagte. Ich ließ meinen Kopf in die Hände gleiten. Samstag sollte ich eigentlich für die Prüfungen lernen, die nächste Woche anstanden. Und vormittags hatte ich mich schon zu einer Verabredung mit meiner besten Freundin Alice hinreißen lassen. „Ich könnte versuchen nachmittags rumzukommen." Sein Lächeln war jetzt weggewischt. „Okay."

Er drehte sich kaum merklich weg und schaltete den Fernseher an. Meine Gedanken rasten. Wie konnte eine Woche so wenig Zeit haben? Ich sah auf die Uhr. In einer Stunde war es zwölf. Die Atmosphäre in diesem Raum schnitt mir ins Herz. Ich wusste, dass ich selbst schuld war. Und ich wusste auch, wie egoistisch und dumm es war, jetzt zu fliehen.

„Luke, ich muss los." Meine Worte klangen hohl. Er nickte, stand auf und ging zur Tür, ich ihm hinterher. Seine langen Finger schlossen die Tür auf. Kalte Nachtluft schoss durch den Flur.

„Soll ich dich noch nach Hause bringen?", fragte er und trotz unseren Streits hörte ich Besorgnis in seiner Stimme.

„Nein, danke", flüsterte ich. Das wäre zu viel verlangt. Er gab mir einen Kuss auf die Stirn. Sanft, leicht, liebevoll.

„Gute Nacht." Meine Stimme verklang, als ich in die Dunkelheit trat und sich die Tür hinter mir schloss.

Ich rieb mir über die Arme. Trotz der Kälte wollte ich noch nicht nach Hause. Ich fühlte mich schlecht, weil Luke etwas Besseres verdiente als mich. Meine Augen brannten und es dauerte nicht lange, da stahl sich die erste dumme Träne aus meinem Auge. Grob wischte ich sie weg. Ich wusste ja selbst nicht, warum ich weinte. Sicher, ich hatte Angst Luke zu verlieren, aber so radikal war unsere Meinungsverschiedenheit nun auch nicht.

Ich blieb stehen. Die Straßenlaternen hatte ich hinter mir gelassen. Vor mir ragte der Wald auf. Dunkel und verlassen. Ich sah mich noch mal um. Alle Wege waren verlassen.

Mir war klar, wie leichtsinnig das hier war, aber ich wollte nicht anders.

Ich brauchte nun dieses Gefühl.

Meine Schritte beschleunigten. Eine Weile ging ich den Waldweg entlang, dann lief ich querfeldein. Ich atmete befreiter. Die Gänsehaut auf meinen Armen zeigte mir, dass ich meinen Mantel zumachen sollte.

Irgendwann blieb ich stehen. Ich schluckte, machte mir die Stöckchen aus den Haaren und setzte mich auf den harten, kalten Boden. Ich hatte keine Angst, dass ich mich verlaufen würde. Mein Kopf sank zwischen meine Knie. Die dummen Tränen kamen wieder. Ich liebte Luke so sehr. Aber war das genug?

Meine Gedanken flogen zu unserer ersten Begegnung. Es war in der Schule, mitten in der Cafeteria, gewesen. Ich war gegen ihn gerannt. Ich lächelte, als ich mich an sein schiefes Grinsen erinnerte. Er hatte ein paar Tropfen von der Tomatensuppe abbekommen, während ich vollkommen überschüttet war. Ich war ziemlich verstört gewesen, doch er hat gelacht, während er sich den Tropfen Tomatensuppe an seiner Wange abgeleckt hat. „Lecker.", hat er mir damals grinsend ins Ohr geflüstert.

Ein Kichern entwich mir und brachte mich zurück in den Wald. Das Geräusch hallte zwischen den Bäumen durch. Ein Ast knackte in meinem Rücken. Ich erhob mich vorsichtig und drehte mich um. Meine Augen erkannten nur die Silhouetten der Bäume.

„Hallo?" Meine Stimme brach.

Im Augenwinkel bewegte sich etwas. Mir fiel ein Gespräch mit meinem Cousin ein. Ich hatte ihn damals gefragt, was er tun würde, wenn er nachts im Wald einen Mann treffen würde. Ich wartete darauf, dass er ‚fliehen' antworten würde, doch er tat es nicht. Er sagte, er würde mitspielen. Er sagte, er würde sich nicht zum Opfer machen. Ich ließ meine Augen über die Bäume schweifen, während die Worte meines Cousins in meinem Kopf wiederhallten.

Und plötzlich war es still. Es war nicht die natürliche Stille eines Waldes. Mein Kopf drehte sich langsam.

Ich wusste, dass ich nicht mehr alleine war.

The sun between the moonsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt