Ein großer Typ stand mir gegenüber. Ich sah ihn an und mir verging der Atem. Er sah nicht unglaublich gut aus, so konnte man das nicht beschreiben.
Nein, er war wunderschön.
Seine glatte, harte Haut leuchtete im Mondlicht. Er besaß Locken. Unglaublich wilde Locken. Seine Augen waren dunkel, man könnte meinen, sie wären schwarz. Doch das Schönste, das Überirdischste war sein Lächeln. Er hatte den Mund ganz leicht geöffnet und hauchte ein Lächeln an. Ein Zittern durchrann meinen Körper. Ich musste träumen.
Doch ich spürte den eisigen Wind und die Stellen, an denen mich die Äste geratscht haben. Mein Atem ging flach. Sollte ich fliehen und mich somit zum Opfer machen? Vielleicht war er ja auch nur ein ganz normaler Typ, der Stress mit seiner Freundin hatte?
Doch irgendetwas an ihm war unheimlich, war krank.
Wir standen und regungslos gegenüber. Keiner wollte seine Position deutlich machen. Oder war er sich seiner Rolle schon bewusst? Ich traute mich nicht, mich zu bewegen. In meinen Gedanken sah ich meine Leiche schon im Wald verscharrt liegen. So ein Quatsch, sagte ich mir. Doch ich beruhigte mich nicht.
Das innere Zittern stieg an. Ich wusste, wenn mir eine Träne entkommen würde, wäre meine Position als Opfer klar. Ich musste ihm vorspielen, ich sei krank. Ich musste ihm klarmachen, dass er derjenige sein würde, dessen Leiche hier verscharrt liegen solle.
Also verengte ich die Augen und setzte - unter wahnsinniger Angstregung - ein Grinsen auf.
Krank würde es bestimmt aussehen, aber angsteinflößend?
Mein Magen machte Bocksprünge. Der Fremde machte nun einen Schritt auf mich zu. Wieso machte er einen Schritt auf mich zu?! Ich sollte doch die Kranke sein und er sollte weglaufen! Nur ein wirklicher Psychopath wurde auf mich zugehen.
Mit enormer Angst startete ich einen zweiten Versuch. Ich reckte mein Kinn und sah ihn verächtlich an. Er grinste breiter.
Scheiße, er war wirklich krank.
Ich drehte mich um und lief los. Die Angst gab mir die Kraft zu beschleunigen, während meine Knie windelweich waren. Mein Handy! Ich keuchte und tastete meine Jackentasche nach der vertrauten Form ab. Verdammter Mist, wo war es nur? Dann fiel es mir wieder ein. Ich sah mein Handy vor meinem inneren Auge auf meiner Kommode. Dort lag es gut.
Ein Ast verhakte sich in meinem Haar. Ich rannte weiter und ignorierte den Schmerz. Hier musste irgendwo der Waldweg sein und dann war es nicht mehr weit. Ich wagte einen Blick hinter mir. Niemand folgte mir.
Ich blieb stehen. Schlauer wäre es sicher, weiter zu rennen, doch Unglauben machte sich in mir breit. Er war so schön gewesen. Hatte ich ihn mir vielleicht nur eingebildet?
Ich schnappte immer noch nach Luft. Langsam wendete ich meinen Blick ab und drehte mich nach vorn.
Dort wartete der Schock meines Lebens auf mich.
Zwei schwarze Augen starrten mich kalt an. Ich schrie so laut, das es mir selbst in den Ohren wehtat. Ich kreischte und schlug um mich, bis er mich schließlich festhielt. Seine Hände drückten um meine Handgelenke zu. Ich verstummte. Meine feuchten Augen wanderten über seine harten Wangenknochen. Ich dachte an meine Mum und an Luke. Es war wahrscheinlich das letzte Mal, dass sie mich gesehen hatten.
„Bitte", hörte ich mich flüstern. Ich war nicht mehr Herr der Lage.
„Bitte was?" Seine Stimme war rau und klang fasziniert. Ich schloss die Augen. Mein Kopf brannte wie Feuer.
„Lass mich gehen" Ich wartete. Er schmunzelte. „Wieso sollte ich?"
Seine Frage überforderte mich. „Wieso solltest du mich ermorden?", hauchte ich schließlich.
Der Typ nickte. „Sag mir deinen Namen." „Annie" Meine Stimme zitterte.
„Gut Annie, ich bin Ashton.", erklärte er. Ich schwieg. „Lass mich gehen, Ashton.", flehte ich nach einer Weile.
„Ash", sagte er. Meine geröteten Augen blickten verloren in seine schwarzen. „Sag: ‚Lass mich gehen, Ash. Bitte.' Sag es flehend." Seine Stimme war leise. Ich schluckte. Was hatte ich für eine Wahl? „Lass mich gehen, Ash. Bitte", flüsterte ich.
Eine Träne tropfte von meinem Kinn auf den Waldboden. Ashton zog die Luft ein.
„Okay. Geh Annie." Seine Stimme war ernst und er fügte hinzu, „Wenn du kannst.". Seine Hände ließen mich frei und ich schwankte. Wild sah ich umher, doch er war verschwunden.
Ich befahl mir einen Schritt nach den anderem zu machen, doch Tränen nahmen mir die Sicht. Ich heulte, wie ich es noch nie zuvor getan hatte. Ich war gerade mit dem Leben davon gekommen!
Vollkommen aufgelöst kam ich Zuhause an. Meine Hände suchten nach dem Schlüssel, doch ich fand ihn nicht. Ich war mir sicher, dass ich ihn eingesteckt hatte! Hatte vielleicht... Nein, das durfte nicht sein! Ich betete, dass ich den Schlüssel im Wald verloren hatte. Ich ließ den Gedanken, dass Ashton den Schlüssel haben könnte, nicht in mein Gewissen sickern.
Schließlich klopfte ich.
Meine Mutter kam die Treppe sofort runtergepoltert - Ich hatte den Verdacht, dass sie gar nicht schlief, sondern oben an der Treppe Wache hielt, bis ich wiederkam - und schloss mir die Tür auf. Ich rieb mir schnell über die Wangen und versuchte meine Mimik im Griff zu halten.
Doch was konnte man schon tun gegen die Adleraugen einer Mutter? Sie zog mich in ihre Arme und das brachte mich wieder zum Schluchzen. „Sh, Darling. Was ist denn los?" Ihre Stimme war erschrocken.
Sie bugsierte mich ins Wohnzimmer und ich ließ mich aufs Sofa plumpsen. Ich schluchzte. Besser ich würde ihr die Wahrheit erzählen. Das würde mir zwar lebenslänglich Hausarrest bescheren, aber trotzdem.
„Mum. Du - du darfst das nie - niemanden erzählen!" Ich wurde von meinen eigenen Schluchzern unterbrochen. Meine Mutter zog mich an sich und legte ihren Kopf auf mein Haar. Unter anderen Umständen wäre es mir peinlich gewesen, aber jetzt war es irgendwie... beruhigend. Ich atmete ein paar Mal tief durch und versuchte die abgehackten Luftzüge herunterzufahren. „Okay. Also ich war ja erst bei Luke und... und wir waren uns nicht ganz einig..." Meine Stimme wurde wieder verräterisch hoch. „Aber das ist jetzt egal. Ich bin gegangen und ich weiß nicht... Ich weiß nicht wieso, aber ich bin in den Wald gegangen." Ich zitterte und meine Mum strich mir sanft über den Arm. Sie hielt den Mund. „Und als ich... im Wald war, da war... da war..." Ich konnte es nicht aussprechen. Ich schluchzte wieder. Gott war ich fertig.
„Was war da?", fragte meine Mutter mich und ich konnte Besorgnis in ihrer Stimme hören. „Ein Mann" Die beiden Worte waren so leise und zerbrechlich, dass ich mich fragte, wie meine Mum sie verstehen konnte. Doch sie verstand sie und erstarrte. Sie nahm mein Gesicht in beide Hände und sah mich prüfend an. „Hat er dir wehgetan?"
Ja, irgendwie schon.
„Nein", flüsterte ich. Sie ließ sich neben mir nieder und atmete erleichtert aus.
„Mum, ich muss schlafen." Sie nickte. „Soll ich dich hochbringen?" Ich lächelte ganz zart.
„Ich bin achtzehn.", erinnerte ich sie, doch in Wahrheit hatte ich Angst. Ich hatte Angst, dass Ash da sein würde. Ich hatte Angst, dass er meiner Mum wehtun würde. Und vorsichtig stieg ich die Treppe hinauf. Ich stieß die Tür auf und sah mit angstgeweiteten Augen in mein Zimmer.
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The sun between the moons
Misteri / Thriller"Denk nicht, du hättest keine Wahl, Annie.", flüsterte er. "Du hast sie immer. Doch gibt es Alternativen, für die du dich niemals entscheiden würdest." Annie. Luke. Ashton. Anfangs war es nur eine Begegnung. Dann wurde es ein Spiel. ***Alle Rechte...