Im Fuchsbau

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Im Fuchsbau




»Nein!«, keuchte Hermine entsetzt. »Ich will mit dir leben, nicht sterben.«

»Glaubst du etwa ich nicht? Doch ich sehe nicht wie. Zu viel steht zwischen uns. Wie soll ich nur meine Eltern überzeugen?« Draco stöhnte und erzitterte leicht.

Die Gryffindor schluckte. Leise sagte sie: »Ich kann dir dabei nicht helfen. Die Entscheidung musst du ganz alleine treffen. Manchmal ist man gezwungen seinen ganzen Mut zusammen zu nehmen und ins kalte Wasser zu springen, wenn man das andere Ufer erreichen will.«

Draco wandte sich ab und blickte wieder über die Ländereien. »Schwer, wenn man nicht schwimmen kann und einem eine Eisenkugel am Bein hängt«, murmelte er.

»Du hast immer noch zwei Arme zum Paddeln und ein Bein frei, um dich vom Boden wieder abzustoßen«, antwortete Hermine.

Der Slytherin hüllte sich erneut in Schweigen.

Krampfhaft suchte Hermine nach einem Gesprächsgegenstand, weil sie die Stille nicht ertragen konnte. »Weshalb hast du deinem Haus die Anweisung erteilt, mich zu ignorieren?«

Draco sah weiter über das Land, als er antwortete: »Ich dachte, so würde es leichter für mich werden, dich zu vergessen.«

»Es halten sich aber nicht alle an deinen Befehl«, sagte Hermine.

»Sie mögen dich nun mal, Goyle und Blaise zumindest. Die beiden haben auf mich eingeredet und sogar Pansy hat sich für dich eingesetzt.«

»Pansy?«, fragte Hermine ehrlich überrascht.

»Hm, sie hat mir die Ohren voll gequatscht, dass dieser ganze Blutskram völliger Blödsinn sei und was für ein toller Mensch Ronald Weasley in Wahrheit doch wäre.« Draco schnaubte verächtlich: »Die hat gut reden. Ihre Eltern werden zwar keine Luftsprünge vor Freude machen, aber Weasley ist immerhin ein reinblütiger Zauberer.«

Den ungesagten Rest konnte sich Hermine selbst zusammen reimen. Deshalb blieb sie stumm.

»Weißt du, was mir in der Zaubertrankstunde aufgefallen ist?«, fragte Draco weiter.

Hermine schüttelte den Kopf. Der Slytherin musste die Bewegung aus den Augenwinkeln bemerkt haben, denn er fuhr fort: »Dein Duft hat sich nicht geändert. Das hätte mir eigentlich auffallen müssen. Schließlich«, Draco stockte kurz, »schließlich sind wir uns sehr nahe gekommen. Du hast anders gerochen, als Pansy, besser, verführerischer. Ich rieche es auch jetzt, wenn der Wind durch dein Haar weht und deinen Duft zu mir bringt.«

Dracos Nasenflügel weiteten sich, während seine Brust sich schwer hob und senkte. Dann drehte er sich endlich zu Hermine um. Langsam hoben sich seine Hände und legten sich auf ihre Wangen. Seine Daumen strichen bebend über ihre Jochbeine. Er beugte sich vor und drückte ihr einen sehnsuchtsvollen Kuss auf die Stirn. »Ich vermisse dich so sehr«, murmelte er erstickt. Dann riss er sich von ihr los.

Erschüttert sah Hermine ihm nach, wie er zur Treppe eilte. Als er die ersten Stufen genommen hatte, schluchzte sie laut auf. Sie hörte, wie er seine Schritte verhielt. Hermine schlug sich die Hand vor den Mund. Würde er zurückkommen? Dann vernahm sie, wie seine Füße ihren Weg nach unten fortsetzten. Weinend brach sie zusammen.



Der Hogwartsexpress stand dampfend im Bahnhof von Hogsmeade. Auf dem Bahnsteig herrschte das übliche Gedränge. Ein leichter Nieselregen tröpfelte auf die Menge nieder. Ron umklammerte Pansys Hand. Ginny behandelte die neue Freundin ihres Bruders wie Luft und Harry schien ohnehin alles egal zu sein, solange er deshalb weder Stress mit Ron, noch mit dessen Schwester bekam.

Ron hatte Hermine erzählt, dass Pansys Eltern ihren Auslandsaufenthalt beendet hatten und sehnsüchtig das Wiedersehen mit ihrer Tochter erwarteten.

Hermine warf den frisch Verliebten einen aufmunternden Blick zu. Überrascht sah sie, wie Pansy sich von Ron löste und auf sie zutrat. Ihr Lächeln wirkte echt: »Bist du mir noch böse, dass ich damals den Trank versaut habe?«

Hermine schüttelte automatisch den Kopf.

»Ich glaube, das war Schicksal«, fuhr Pansy fort und strahlte über das ganze Gesicht. »Ron ist unglaublich. Noch nie habe ich jemanden kennen gelernt, der so fürsorglich ist. Ich liebe ihn wirklich sehr.«

»Freut mich für dich. Du passt auch besser zu ihm, als ich«, Hermine zwang sich zu einem Grinsen.

Spontan streckte die Slytherin die Hand aus. »Danke», sagte sie schlicht. »Ron hat mir erzählt, dass du ihn ermuntert hast, auf mich zuzugehen.«

»Ich hoffe«, fuhr Pansy fort und senkte plötzlich die Stimme, »dass das Abenteuer auch für dich gut ausgeht.«

Doch ihr Freund hatte gute Ohren. »Was meinst du damit? Ist es doch eigentlich schon. Hermine ist wieder in ihrem eigenen Haus und hat ihre Freunde zurück. Es fehlt ihr doch nichts.«

»Findest du nicht, dass sie ein bisschen elend aussieht?«, fragte Pansy scheinheilig.

»Schon«, gab Ron zu, »aber das liegt daran, dass sie ihre Hausgemeinschaft so lange entbehren musste. Das sind lediglich die Nachwirkungen aus Slytherin.«

»Da stimme ich dir allerdings zu«, gestand Pansy und zwinkerte in Hermines Richtung. »Und ich bin sicher, dass diese Folgen schwer an sich arbeiten.«

Ron sah verständnislos auf seine Freundin hinab, sagte jedoch nichts dazu.

Doch Hermines Herz schlug sofort schneller. Natürlich wusste sie, dass Pansy ihr damit Hoffnung machen wollte. Die Gryffindor hob den Kopf und begegnete einem Paar grauer Augen, die sich für einen kaum wahrnehmbaren Moment weiteten, als sie auf die ihren trafen. Draco stand wenige Meter entfernt von ihnen. Dann wandte er den Kopf und sagte: »Kommst du, Pansy?«

Seine Hauskollegin nickte. Ron drückte Pansy noch einmal fest an sich, ehe sie alle hintereinander den Zug bestiegen.

Slytherins und Gryffindors beäugten die Verbindung der beiden misstrauisch, doch wirklich aufregen tat sich darüber niemand. Die Nichteingeweihten wunderten sich nur, woher das plötzliche Interesse Pansys an Ron kam. Schließlich hatte es zuvor noch nicht einmal andeutungsweise zwischen ihnen geknistert. Der eine oder die andere glaubte sich im Nachhinein doch an erstaunte Blicke oder Ausrufe erinnern zu können. Hermine lächelte immer ein wenig wehmütig, wenn sie solche Gesprächen im Gryffindorturm mithörte. Sie wusste ja, dass es ihre eigenen Blicke gewesen waren. Die Redenden verstummten augenblicklich, sobald sie dazukam. Man sah sie mitleidig an, schob ihr schlechtes Aussehen auf die Tatsache, dass Ron jetzt eine neue Freundin hatte. Mehr als einmal musste er sich gefallen lassen, darauf angesprochen zu werden.

Hermine setzte sich ans Fenster und sah in den stärker werdenden Regen hinaus. Die Tropfen rannen die Scheibe entlang und wurden immer schneller, je mehr Fahrt der Zug aufnahm. Harry saß ihr gegenüber. Ginny hatte ihren Kopf auf seinen Schoß gelegt und die Beine lang auf der Sitzbank ausgestreckt. Ron hatte sich neben Hermine gesetzt und ein verklärtes Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich werde Pansy eingeladen, uns in den Ferien zu besuchen.«

Ginny kommentierte die Nachricht mit einem Stöhnen. »Muss das sein?« Sie wandte sich an die beiden anderen. »Findet ihr nicht auch, dass meine Brüder einen merkwürdigen Geschmack zeigen, was Frauen angeht? Jetzt mal ehrlich, Ron, Fleur war schon nicht der Hammer, aber Pansy schlägt sie noch um Längen.«

»Fleur ist doch ganz in Ordnung«, meinte Harry. »Sie hat sich unter Bills Einfluss gut entwickelt.«

»Bei der Parkinson habe ich da aber wenig Hoffnung«, maulte Ginny.

Hermine war mittlerweile anderer Ansicht, enthielt sich aber jeglichen Kommentars. Wie würden Rons Eltern die Neuigkeit aufnehmen? Bisher wusste nur Ginny weshalb es Hermine wirklich so schlecht ging. Doch auch Mrs. Weasley hatte ein Gespür dafür. Wie konnte Hermine es ihr nur plausibel erklären, dass Ron keine Schuld daran traf, ohne gleichzeitig ihre wahren Gefühle für Draco Malfoy zu offenbaren?

Sie war froh, dass Ron ihnen allen das Versprechen abverlangte, nichts von Pansy und ihm zu erzählen. Das wollte er selbst übernehmen, sobald sich die passende Gelegenheit dazu ergab. Seine Eltern würden so schnell schon nichts merken, da Hermine sich wie immer mit Ginny das Zimmer im Dachgeschoss teilte und Ron und Hermine sich ohnehin nur sehr selten im Beisein von Molly oder Arthur geküsst hatten.

Der Zug pfiff, bevor er in den Bahnhof Kings Cross eindampfte. Sie griffen nach ihren Koffern und stürzten sich in das Gewühl auf dem Bahnsteig.

Hermine entdeckte Narzissa Malfoy. Das Lächeln auf deren Lippen erstarb sofort und wich einer tiefen Besorgnis, als sie ihren Sohn erblickte.

»Kannst du meine Mutter sehen?«, fragte Ron neben ihr.

»Nein, noch nicht.« Hermine beobachtete derweil Pansy, die sich aus dem sich zerstreuenden Pulk der Slytherins löste und Kurs auf Ron nahm, ohne Narzissa auch nur einen Blick zu schenken. Das Mädchen trat demonstrativ auf Ron zu, umarmte und küsste ihn.

Hermine beobachtete die Zornesfalte auf Narzissas Gesicht und den fragenden Blick, den sie Draco zuwarf. Doch ihr Sohn schüttelte nur den Kopf und legte den Arm um sie.

»Da hinten kommt deine Mutter«, warnte Hermine Ron, der sich sogleich von Pansy löste und sie ein Stück von sich weg schob.

»Ich schicke dir eine Eule«, flüsterte er der Slytherin zu. Pansy drehte sich um und suchte ihre Eltern.

»Da seid ihr ja aller wieder«, rief Mrs. Weasley entzückt. Jeder wurde kräftig an ihre breite Brust gedrückt. Bei Hermine stockte sie entsetzt. »Was ist denn mit dir passiert? Du siehst grauenvoll aus.«

»Ich habe die letzten drei Arbeiten versemmelt«, antwortete Hermine, was sogar zum Teil der Wahrheit entsprach, zumindest aus ihrem Blickwinkel. Für Ron wären die Ergebnisse immer noch fantastisch gewesen.

Mrs. Weasley schüttelte bedauernd den Kopf. »Das gibt sich wieder. Jetzt hast du erst einmal Ferien. Vergiss Hogwarts und alles was damit zusammenhängt.«

Hermine lächelte gequält. Das war wesentlich leichter gesagt, als getan.

Mrs. Weasley bemühte sich besonders, Hermine wieder etwas Fleisch an die Knochen zu füttern, wie sie es ausdrückte. Ständig bot sie der Gryffindor etwas zu essen an und sogar Mr. Weasley unterstützte sie dabei.

Die Feiertage kamen und gingen. Hermine verbrachte viel Zeit in dem Zimmer, das sie mit Ginny teilte. Sie nutzte sie weniger zum Lernen, als zum Grübeln. Doch so sehr sie auch versuchte, ihre Situation von allen Seiten zu betrachten, sie kam auf kein Ergebnis. Draco musste den ersten Schritt machte, musste auf sie zukommen. Seit der Begegnung auf dem Astronomieturm und dem Gespräch mit Pansy auf dem Bahnsteig hatte sie wieder ein wenig Hoffnung geschöpft. Sie wusste, wenn überhaupt würde Draco jetzt während der Ferien mit seinen Eltern reden. Insofern wurde sie von Tag zu Tag nervöser. Nachts plagten sie Albträume, aus denen sie mehr als einmal schreiend erwachte. Ginny nahm sie in den Arm, wiegte und tröstete sie, so gut sie es vermochte.

Am Dienstag nach Ostern kam Mr. Weasley nachdenklich aus dem Ministerium. Er schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf.

»Was ist denn, Arthur?«, fragte seine Frau beim anschließenden Abendessen.

»Ich dachte vorhin, ich hätte jemanden gesehen, der das Haus beobachtet. Aber das kann gar nicht sein. Was sollte ein Malfoy schon hier wollen?«

Hermines Herz schlug sofort schneller, während Ron plötzlich unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen begann.

»Wenn überhaupt, dann glaube ich ist er meinetwegen hier«, presste er schließlich hervor. Auf die fragenden Blicke seiner Eltern hin fuhr er fort: »Ich habe ihm die Freundin ausgespannt.«

»Was?«, kreischte Molly Weasley entsetzt auf. »Du bist nicht mehr mit Hermine zusammen?«

Ihr Sohn nickte betreten. »Ich wollte es euch schon längst sagen, dass Hermine und ich nur noch gute Freunde sind.«

»Sieht sie etwa deinetwegen so schlecht aus?«, fuhr seine Mutter auf.

Hermine beeilte sich, dies zu dementieren. »Nein, es hat sich einfach so ergeben. Für uns beide ist es völlig in Ordnung.«

»Moment mal«, mischte sich Rons Vater ein. »Wenn du Draco Malfoy die Freundin weggenommen hast, dann kann sie doch nur ein Reinblut sein und aus Slytherin stammen.«

Ron senkte den Kopf. »Das stimmt. Es ist Pansy Parkinson. Und ihr habt sie bereits kennengelernt, als sie Weihnachten mit uns feierte.«

Er erklärte seinen entsetzten Eltern wie es zu dem Rollentausch kam.

»Du liebe Zeit, Hermine. Bedeutet das etwa, du hast Weihnachten mit den Malfoys verbracht?«

»Ja.«

Molly Weasley sah sie skeptisch an. »Bist du dir sicher, dass Draco Malfoy nicht wegen dir hier ist?«

»Wenn er das ist, Liebling«, unterbrach ihr Mann, »dann eher um sich an Hermine zu rächen und nicht aus Liebe.« Molly schwieg nachdenklich und Arthur blickte zu seinem jüngsten Sohn. »Ich hatte so gehofft, dass wenigstens du uns eine muggelstämmige Hexe ins Haus bringst.« Die Weasleys diskutierten noch eine kleine Weile miteinander, waren dann aber doch damit einverstanden, Pansy Parkinson einzuladen. Hermine versicherte ihnen mindestens zehn Mal, dass es für sie völlig in Ordnung gehe. Man einigte sich für den Besuch auf Samstag.

Am nächsten Morgen schickte Ron seine kleine Eule Pigwidgeon mit der Einladung zu Pansy. Hermine lächelte, als sie seine freudig strahlenden Augen wahrnahm, die dem Vogel nachblickten. Sie freute sich aufrichtig für ihren Freund und hatte letztendlich sogar seine Eltern davon überzeugen können.

Am Abend öffnete Hermine weit das Fenster der Dachkammer, in der sie mit Ginny schlief.

»Wenn ich nur daran denke, dass ich mit dem Suppenhuhn dieses Zimmer geteilt habe, könnte ich noch heute ausflippen«, murrte Ginny. »Zum Glück bist du jetzt wieder da und Parkinsons Besuch bleibt auf den Samstag beschränkt, Übernachtung wegen Platzmangel ausgeschlossen.«

Hermine schwieg. Was würde sie dafür geben, wenn sie Samstag nicht hier wäre, sondern diesen mit Draco, egal wo verbringen könnte. Doch das sagte sie nicht.

Nachdem sie sich für die Nacht umgezogen hatte, ging sie hinüber zum Fenster. Ginny hatte das Licht im Zimmer noch nicht gelöscht. Als Hermine nach dem Fenstergriff angelte, glaubte sie draußen im Schein einen silberblonden Fleck zu erspähen. Hermine schloss die Augen, rieb sich mit beiden Fäusten darüber und riss sie wieder auf. Da war nichts. Entweder hatte sie sich getäuscht oder Draco beherrschte den Desillusionierungszauber.

Die Gryffindor kletterte auf die Fensterbank und lehnte sich mit dem Rücken an die Leibung. Sie zog ihr Haargummi aus dem Zopf und schüttelte den Kopf. Unentwegt starrte sie in den Garten. Wenn er da war, um sie zu sehen, dann sollte er sie betrachten, sollte sich nach dem sehnen, was unerreichbar schien. Vielleicht war das der letzte Anschub, den er brauchte, um endlich zu springen.

Hermine versuchte ihr Herz zu fragen, ob er da war, oder nicht. Doch es schwieg. Zu groß war der Wunsch, er möge wirklich dort unten stehen, als dass sie eine objektive Antwort hätte erwarten können.

»Was ist denn?«, fragte Ginny vom Bett her.

»Ich brauchte nur noch etwas frische Luft.« Hermine seufzte und sprang von der Bank. Sie schloss das Fenster und löschte das Licht. Es dauerte lange, bis sie endlich eingeschlafen war.



Hermine irrte durch den verbotenen Wald. Ständig stolperte sie über Wurzeln und Schlingpflanzen, die sich nach ihren Fußgelenken ausstreckten und versuchten, sie zurück zu halten. Die Gryffindor wusste, sie durfte nicht stehen bleiben, musste tiefer in das Dickicht vordringen. Sie suchte den Felsen, von dem Zauberer und Hexen sprangen, die einen großen Wunsch hatten. Sie riskierten dabei ihr Leben, doch wer es schaffte, dem wurde der Wunsch erfüllt. Äste schlugen Hermine ins Gesicht, als sie ununterbrochen weitereilte, und ritzten ihr die Wangen auf. Der Boden wurde steiniger. Sie war auf dem richtigen Weg. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein. Die Felsbrocken wurden größer und größer. Schließlich erreichte Hermine keuchend ihr Ziel. Sie stand am Fuße eines kleinen Berges, der von kleineren und spitzen Felsen umgeben war. Oben stand Draco und sah hinab. Er zögerte.

»Spring!«, rief Hermine. »Ich passe auf dich auf und geleite dich sicher zu mir.«

»Spring nicht«, befahl eine Stimme, die Lucius Malfoy gehörte. »Wenn du es tust, werde ich dich gegen die Felsen schleudern.«

»Ich auch«, sagte Dracos Mutter und starrte die Gryffindor tückisch an.

»Und ich«, ergänzte Theodore Nott hämisch. »Wir sind zu viele für dich, Schlammblut. Du wirst ihn nicht retten können.«

»Hilft uns denn niemand?«, rief Hermine verzweifelt.

»Nein«, antworteten Harry und Ron wie aus einem Mund. Sie standen plötzlich neben ihr und vergruben demonstrativ ihre Hände in den Hosentaschen. »Nicht für so einen.«

Hermine sah nach oben. Draco sah wortlos auf sie hinab und ohne Vorwarnung sprang er.

Alle rissen ihre Zauberstäbe hoch. Hermine versuchte, Draco zur sicheren Erde zu geleiten, während die Slytherins sich bemühten, ihn gegen die Felsen zu drücken. In der Luft wurde Dracos Körper hin und her gezogen. Hermine kämpfte verzweifelt, doch es gelang ihr einfach nicht, Draco aus der Gefahrenzone zu bringen. Immer näher flog er zu den anderen, die schließlich mit vereinten Kräften seinen wehrlosen Körper gegen die Felsen krachen ließen. Dracos Gliedmaßen wurden zerschmettert und er lag auf der Spitze eines großen Findlings wie eine zerbrochene Puppe. Sein Blut sickerte an dem Stein entlang und hinterließ dunkle Spuren.

Hermine schrie aus Leibeskräften seinen Namen, wieder und wieder. Starke Arme umfingen sie, hielten sie fest umklammert. Hermine schüttelte sie schließlich ab, wollte zu Draco. Sie konnte ohne ihn nicht mehr leben, sie musste ihm folgen. Wie sie zu ihm rannte, versank sie plötzlich im Wasser. Es drang in ihren Mund und Nase ein. Hermine spuckte und schrie erneut nach Draco. Noch nicht einmal im Tode wollte man sie zu ihm lassen.

Jemand schlug sie mehrfach hart ins Gesicht. Hermine riss die Augen auf. Ginny beugte sich besorgt über sie. »Merlin sei Dank, du bist endlich wach. So schlimm war es noch nie.«

Hermine brauchte ein wenig Zeit, um sich zu sammeln. Sie hatte geträumt, wieder einmal. Doch bisher hatte man sie entweder nie zu ihm gelassen oder sie von ihm fortgezerrt. Nie war Draco gesprungen und niemals gestorben. Hermine zitterte wie Espenlaub und berichtete ihrer Freundin stockend, was sie gesehen hatte. »Ich habe nur geträumt, nicht wahr, Ginny. Er ist nicht tot. Draco kann nicht gestorben sein, das würde ich doch spüren, oder?«, schloss sie ängstlich.

»Natürlich lebt er noch.«

»Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihm etwas zustößt«, jammerte Hermine. »Habe ich das halbe Haus aufgeweckt? Mir war, als hätte ich schon wieder geschrien.«

»Hast du auch. Zuerst habe ich den Muffliatozauber angewandt, damit niemand etwas hört. Dann habe ich versucht, dich in meinen Armen zu trösten, doch du hast mich weggestoßen. Dann habe ich dir Wasser ins Gesicht gespritzt, doch du bist nicht aufgewacht, erst die Ohrfeigen haben geholfen.«

Hermine schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Nun streichelte Ginny ihr sacht über den Rücken. Es dauerte sehr lange, bis Hermine sich wieder beruhigt hatte. Schließlich legte sie sich wieder hin. In dieser Nacht träumte sie nichts mehr.



Am nächsten Morgen fühlte sie sich wie gerädert. Hermine hatte starke Kopfschmerzen und ihr war schwindelig. Mrs. Weasley versorgte sie mit heißem Tee, einer Wärmflasche und beorderte sie ins Bett. Zum Mittagessen stand sie jedoch wieder auf. Mr. Weasley war früher aus dem Ministerium zurückgekehrt und sah Hermine besorgt an.

»Mir geht es schon viel besser. Die Schmerzen sind weg und es dreht sich auch nichts mehr. Ich hatte nur einen schrecklichen Traum und bin noch ein wenig wackelig auf den Knien.«

Sie saßen alle um den Esstisch versammelt und langten herzhaft zu. Besonders Ron, dessen Eule heute früh mit Pansys Zusage für Samstag eingetroffen war. Hermine dagegen zwang sich regelrecht, etwas hinunter zu würgen. Es war ihr, als wollte jeder Bissen im Hals stecken bleiben. Hoffentlich hatte der Traum keine schlimme Bedeutung. Sie wollte lieber ihr ganzes Leben lang Draco nachtrauern, als ihn tatsächlich tot zu sehen. Ginny sah sie immer wieder an und Hermine versuchte, ihrer Freundin aufmunternd zuzulächeln. Harry unterhielt sich mit Mr. Weasley, der gerade erzählte, dass er George ebenfalls für das Wochenende eingeladen hatte. Schließlich legte auch Ron das Besteck mit einem Seufzer neben seinen Teller. Sofort verschwand Mrs. Weasley mit einem Teil des Geschirrs in der Küche. Die anderen halfen beim Abräumen. Während sich alle wieder an den Tisch setzten, weil Mr. Weasley ihnen ein Muggelartefakt zeigen wollte, das er heute geschenkt bekommen hatte, kümmerte sich Molly Weasley um den Abwasch. Sie ließ die Teller zum Ausgussbecken schweben und öffnete den Wasserhahn.

Hermine beobachtete, wie Rons Mutter dabei aus dem Fenster blickte und zur Salzsäule erstarrte. »Arthur, komm mal bitte.«

Ihr Mann erhob sich und auch Ron und Ginny standen auf. »Nein, ihr beide nicht«, sagte Mrs. Weasley scharf.

Die vier Gryffindors sahen sich fragend an. Arthur Weasley stellte sich neben seine Frau, blickte hinaus und versteifte sich ebenfalls. Leise sprachen sie miteinander. Schließlich drehte sich der Hausherr um und sagte: »Draußen im Garten steht Draco Malfoy und beobachtet die Haustür. Kann sich jemand erklären was er hier will?«

Zaubertrank des SchicksalsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt