2 ~ Blinddating

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„Jule, ich brauche dringend deine Hilfe“, rufe ich hektisch in den Hörer meines Telefons, während ich meine weißen New Balance unter einem Stapel Strandkleider hervorziehe, aus denen noch der Sand von letztem Sommer herausrieselt.
Verärgert schüttele ich die Sneakers aus. Auch das noch!
Jetzt ist die ganze Wohnung voller Sand und ich darf nachher noch saugen... Ich streiche mir die Strähnen meiner braunen Haare aus der Stirn und fege den Sand rasch zusammen.

„Klar, wo brennts, Lilac?“, ich habe nun die volle Aufmerksamkeit meiner besten Freundin.

„Was soll ich besser anziehen?
Mein gelbes oder mein weißes Kleid?“

Vor Nervosität husche ich bereits seit einer gefühlten Ewigkeit durch meine Wohnung, von der Küche ins Badezimmer, vom Badezimmer in mein Schlafzimmer, vom Schlafzimmer wieder in die Küche.
Normalerweise bin ich die Ruhe selbst. Man sagt, wenn man in sich selbst ruht, ist man auch nach außen hin sympathisch.

Und ich bin der Ansicht, dass ich nach den vielen Horrorjahren in meiner Schulzeit eine umso bessere Unizeit vor mir habe.
In der nicht meine Kilos zählen, sondern meine Liebe zu Literatur und Kreativem Schreiben.

Tatsächlich habe ich im ersten Semester an der Freien Universität Berlin die rothaarige Jule kennengelernt, die mich als Menschen mit Herzblut für Bücher sieht und nicht als Frau mit etwas zu viel Speck auf den Hüften.

Sie war es auch, die mich dazu überredet hat, mich mit einem der Studenten aus unserer Vorlesung, Maxim, zu treffen.

Und in genau fünfzig Minuten ist es so weit und er steht vor meiner Wohnungstür.

Fünfzig Minuten, in denen ich noch herausfinden muss, in welchem Kleid ich weniger nach Walross aussehe, sondern mehr nach einer Frau in meinem Alter...

„Gelb sieht super aus. Senfgelb?“, Jule ruft etwas durch den Hörer, was wahrscheinlich für ihren Freund Cedric gedacht ist, den sie seit der Schulzeit kennt.

„Hey, Cedric! “, rufe ich.

„Hey, Blümchen!“, antwortet er und ich höre das Grinsen in seiner Stimme weil er weiß, dass ich den Spitznamen hasse. Wirklich hasse. Aber Cedric kann niemand böse sein...

Daher lache ich und ziehe das senffarbene Kleid an, ziehe den Reißverschluss zu und mustere mich im Spiegel. Größtenteils werden meine Polster versteckt, allerdings sieht man, wie meine Figur darunter aussieht. Ich seufze. Lieber doch das weiße Kleid?

„Was auch immer du jetzt überlegst, du siehst gut aus. Wer dich nicht will, verpasst den besondersten und schönsten Diamanten weit und breit“, sagt Jule energisch, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

Ich seufze erneut und betrachte mich ein zweites Mal. Ich bin so wie ich bin. Vielleicht ist er ja nicht so oberflächlich, wie die Jungs in der Oberstufe. Vielleicht sieht er mehr in mir als das.  Vielleicht sieht er meine grün gesprenkelten Augen oder meine Sommersprossen.

Vielleicht sieht er meine braunen kurzen Haare, die von der Sonne etwas blonder geworden sind.

„Okay. Danke, Jule. Ich hab dich lieb.“

„Ich dich mehr. Hör mal, wir wollten noch ins Kino... Wenn was ist, schreibe mir einfach eine SMS.
Viel Glück und vor allem, ganz viel Spaß!“

„Danke“,sage ich und höre, wie ängstlich und nervös meine Stimme klingt. Ich schaffe das. Es ist nur ein Date in einer Tapas Bar...

Als Jule aufgelegt hat, ziehe ich mir die Strickjacke über das Kleid und mache mich daran, irgendwie Zeit zu schinden.

Klopft mein Herz in Zukunft immer so, wenn ich mich mit einem Mann treffen werde?

Ich betrachte mich ein letztes Mal im Spiegel und lächele mir selbst aufmunternd zu.

„Zieh dich warm an, Maxim!“




Lilac #freeyourbody ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt