25~ Spilled Tea

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„Und du hast keine Ahnung, wer er sein könnte?“, fragt Jule zweifelnd und dreht den Strohhalm in ihrem Glas herum, sodass der Kakao sich mit dem Zimt vermischt. Ich schüttele den Kopf. „Wenn es doch der aus der Vorlesung ist?“
„Ich weiß nicht... Ich müsste herausfinden, wie er heißt.“
Sie nickt bestätigend und lässt den Blick erneut durch das Café schweifen, in dem wir uns positioniert haben, um Mr. Darcy zu finden. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass er genau weiß, wer ich bin. Das ist so absurd, so verquer.
Er weiß also, dass ich lüge.
Er weiß, dass mein Tinder Profil ein Trugbild ist. Und dennoch schenkt er mir meinen Lieblingskaffee, schreibt mir ein Gedicht und schreibt täglich mit mir. Ich nehme eine große Gabel des Himbeerkuchens.

„Wenn wir hier lange genug warten, kommt er vielleicht auch“, sagt Jule aufmunternd und widmet sich wieder ihrer Powerpoint Präsentation für English Writing. Auch ich versuche, mich wieder auf mein Buch zu konzentrieren, doch die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen.

Eine gefühlte Ewigkeit ist verflogen, das Café hat sich bis auf Jule und mich und ein Pärchen in der hinteren Ecke geleert. Ich hebe den Blick und gehe davon aus, ihn nicht sofort zu erkennen. Doch mir bleibt fast das Herz stehen, als der Typ aus der Vorlesung, der mit den dunkelblonden Haaren, hineinkommt und sich ein paar Tische weiter setzt.

Ich stupse Jule mit dem Zeigefinger an, die ihn sofort bemerkt und große Augen macht. Ist das überhaupt noch ein Zufall? Ich sammle all meinen Mut zusammen, um ihn zu fragen.
Wenn er mich kennen würde, würde er mich dann nicht bemerken?
Oder ignoriert er mich extra, um mir meinen Freiraum zu geben?
Der Mut rutscht bis unter die Teppichkante des Bastteppichs im Café. Ich kann das nicht.

Was, wenn ich mich irre? Wenn er es nicht ist? Wenn er mich für verrückt hält? Ach Quatsch, wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ich sammle so viel Mut, so viel Selbstbewusstsein, wie ich kann und stehe auf. Meine Kilos fühlen sich schwer an, die Angst sitzt wie ein fetter Käfer auf mich und will mich hinunterdrücken. Eigentlich will ich sofort wieder umdrehen, aber ich stehe schon vor ihm.

Mein Räuspern hört sich leise und quietschend an, als er den Kopf hebt.
Sein Blick fällt auf mich und ich muss nicht einmal mehr nach seinem Namen fragen, um zu wissen, dass er es nicht ist. Keine Spur von Erkennen zeichnet sich in seinen blaugrauen Augen ab. Vielmehr sehe ich etwas, was mir allzu bekannt ist. Missbilligung. Abneigung. Ekel.
Er schaut mich so abschätzig an, als würde ich ihm seine Ruhe stören.

„Was willst du? Kennen wir uns?“

Seine Augenbraue hebt sich und er erinnert mich an Eric, Maxim und die anderen Jungs, denen ich nie etwas wert war. Ich hebe meine Stimme und sage so mutig wie ich kann:

„Bist du Linus?“

„Ähm. Nein. Julian.“

„Ähm, okay, klar. Hätte ich mir denken können.“.

Ich überlege, wieder umzudrehen, als er etwas sagt. „Wer ist er denn?“

„Nur jemand, mit dem ich schreibe“, sage ich ausweichend, worauf Julian amüsiert an seinem Chai Tea nippt.

„Nimm es mir nicht übel, aber ich schreibe eher mit einer anderen Sorte Mädchen!“

Diese Worte sind so niederschmetternd, so gemein, so herablassend, dass ich ihm am liebsten seinen Tee über den teuren Pulli schütten würde. Ihn anschreien, so wie Maxim. Aber er erinnert mich so sehr an Eric, an all die Teenager in der Schule, die mich fertig gemacht haben. Ich spüre die tiefe Enttäuschung und wünschte, ich würde den Mut aufbringen, ihm den Tee überzuschütten. Doch stattdessen nimmt mir jemand diese Aufgabe ab.

Der Tee schwappt über Julian's Pulli, der sofort aufspringt. „Spinnt ihr?“
Ich drehe mich um und sehe Henry, der mit dem Becher Tee dasteht, der jetzt leer ist. Seine Augen flackern vor Wut und er legt den Arm beschützend um mich. „Eine andere Sorte Mädchen? Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“

Julian rammt ihn mit der Schulter, schnappt seine Tasche, wirft das Geld für den Tee auf den Tisch und macht, dass er hinauskommt. Dutzende Augenpaare starren uns an. Wann ist das Café so voll geworden? Henry greift nach meiner Hand und wir verlassen das Café. Mein Herz klopft laut und ich umarme ihn einfach, so erleichtert bin ich.

„Danke, Henry!“

Überrascht legt er die Arme um mich und streicht mir über die Haare.
Ich versuche, alle Erinnerungen zu verdrängen. An Julian. An Maxim. An Éric. An alle Anderen. Wir stehen ewig so da, mein Herzschlag an seinem. „Was wolltest du denn von ihm?“, fragt er irgendwann neugierig.

„Ach nichts“, sage ich schnell und hoffe, dass er nicht noch einmal nachfragt.




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