38~ One last chance

88 14 0
                                    

Der frühlingswarme Wind weht mir entgegen, als ich aus der Ballett Schule in Stockholm auf die belebte Straße trete. Erst, seit ich wieder tanze, merke ich, wie sehr mir der Rhythmus meiner Füße auf dem Boden gefehlt hat. Madame Poussin aus Frankreich, meine Tanzlehrerin, ist mehr als zufrieden. Und auch wenn die meisten in der Tanzschule zehn Kilo weniger wiegen als ich, bringen sie mir Bewunderung entgegen. Janice, die aus England kommt, und ich haben vor, noch ein wenig shoppen zu gehen.
Wir unterhalten uns viel und gerne und sie weiß mittlerweile von Jule und auch von Henry. Es wäre gelogen zu sagen, dass ich ihn vergessen habe.
Wir spazieren über die Brücke nach Gamla Stan und schauen auf das glitzernde Wasser. Es ist wirklich wunderschön hier.

Stockholm ist nicht nur typisch schwedisch, sondern auch sehr kosmopolitisch und multikulturell. Wir setzen uns in eines unserer Lieblingscafés direkt am Wasser und trinken Kaffee.
Mit Zimt. Sie liebt ihn genauso wie ich, amüsiert sich aber darüber, dass ich immer ein Döschen Zimt dabei habe. Den ganzen Nachmittag verbringen wir in der Stadt und bummeln, reden über die Uni und das Lernen. Mir fällt es zwar nicht leicht, mit dem vielen Lernstoff fertig zu werden, allerdings gebe ich mir viel Mühe. Es gibt eine riesige Bibliothek, in der ich gerne viele Stunden verbringe und einen Campus, der super gemütlich gehalten ist, durch die vielen Bäume, an die man sich lehnen kann. Besonders im Frühling, seit die Temperaturen wärmer geworden sind, lerne ich gerne auf diese Weise. Wir reden ewig und ich sage ihr, dass Jule heute Abend kommt. Ich bin schrecklich aufgeregt, meiner besten Freundin zu zeigen, wie schön das Leben hier ist.

Und das ist es. Ich bin glücklicher, selbstbewusster und selbstbestimmter. Ich bin so wie ich sein will. Egal, wie mein Gewicht ist.
Für mich zählen jetzt andere Dinge wie die Uni, das Schreiben meines Romans, das ich wieder aufgenommen habe, und das Ballett.
Wer weiß, ob ich mich wieder verlieben werde und ich warte auch nicht darauf. Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben so richtig zufrieden mit mir selbst, ohne dafür die Zustimmung anderer zu brauchen, die mir versichern, dass ich okay bin.

Janice und ich verabreden uns für heute Abend, wenn Jule angekommen ist, damit ich die beiden einander vorstelle. So wie ich Jule kenne, wird sie Janice einer strengen Beobachtung unterziehen. In meiner Wohnung räume ich etwas auf, dusche und beginne, schwedische Kanelbullar für Jule und mich zu backen. Natürlich mit extra viel Zimt. Als ich meine Spotify Playlist laufen lasse, wird Walking on the moon angespielt und ich denke wieder an Henry.

Wie es ihm wohl geht? Ob er mich vermisst? Hat er einen Versuch gestartet, Jule nach meiner neuen Handynummer zu fragen?

Jule lässt die zwei Koffer theatralisch in meine kleine Küche purzeln, ehe sie mir um die Schultern fällt. Wir halten uns Ewigkeiten fest, so sehr haben wir uns vermisst. Janice klingelt kurz darauf und umarmt meine Freundin herzlich, die dieser ebenfalls Sympathie entgegenbringt.
Wir essen die Kanelbullar und reden über alles mögliche. Der Name Henry wird automatisch umgangen.
Ich schätze Jule hält es immer noch für ein sensibles Thema.
Als es Abend wird, beschließen wir, ein wenig raus zu gehen und meiner Freundin die Stadt zu zeigen.
Ich ziehe meinen neuen roten Pulli an, der mir sogar gut steht, als mein Handy summt.

Mir leuchtet das bekannte Logo von Tinder entgegen. Ich habe die App nie gelöscht. Wieso eigentlich? Mein Fake Account ist immer noch da, unverändert. Er kommt mir plötzlich albern vor. Ich habe eine neue Nachricht. Erst will ich sie einfach wegklicken, ehe ich den Namen erkenne und stutze.

Mr.Darcy'sbetterversion heißt der User. Neugierig klicke ich auf die Nachricht. Es ist ein Link zu einer Homepage eines bekannten Clubs in Stockholm. Heute findet ein Poetry Slam statt. Unter den Teilnehmern finde ich einen Namen, der mein Herz tatsächlich höher schlagen lässt.

Mr. Darcy. Plötz weiß ich, dass er es ist. Ich spüre es irgendwie. Jule platzt ins Bad und sieht mein bleiches Gesicht, ehe sie den Flyer ansieht.

Und ich entscheide, dass ich ihn sehen will. Ich will hören, was er mir zu sagen hat. Deshalb, weil ja auch ich ihn mehr oder weniger angelogen habe, durch den Fake Account. Und deshalb, weil mein Herz völlig verrückt spielt, als ich an ihn denke.

Lilac #freeyourbody ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt